Temeswar–Innenstadt, Mitte Januar, ein früher Nachmittag, klirrende Kälte. Minus 10 Grad, gefühlt wie minus 17. So zumindest die Iphone-Wetterapp. Menschenleer sind die Straßen rund um den Freiheitsplatz, in der Straßenbahnhaltestelle vor der schicken Cafeneaua Verde zwei ältere Herren, ein paar frierende Schulkinder. Im Café wird bei Bruschettas und Pfefferminztee heiß debattiert, ob die Stadt sicher sei, ob die Straßenkriminalität mit dem westeuropäischen Durchschnitt zu vergleichen ist, ob Minderheiten, auch sexuellen, mit Offenheit begegnet wird, ob die politische Korrektheit auch hier deutsche Maßstäbe erreicht. Wohl kaum, aber die Stadt ist sicher, offen ist man schon, auf jeden Fall aufgeschlossener als vor einem oder zwei Jahrzehnten. Den Besuchern präsentiert sich eine von den Mentalitäten her gesehen relativ offene Stadt, für mittel- und osteuropäische Verhältnisse eher liberale Gesellschaft, die jedoch an Grenzen stoßt. Denn Temeswar/Timi{oara, eine der Kulturhauptstädte Europas im Jahre 2021, ist nicht mehr die Stadt, die sie gern einmal war, von einem tatsächlichen Multikulturalismus kann wohl nicht mehr gesprochen werden.
Aber ein Hauch davon ist noch da, die Besucher aus Deutschland merken dies sofort, nicht nur im Gespräch mit Alttemeswarern, die sie auf „Städtlerisch” begrüßen, sondern auch in den Kaffeehäusern, in den Restaurants, auf den Plätzen, selbst im mittlerweile vor der als grandios angekündigten Erweiterung stehenden Einkaufszentrum „Iulius Mall”, auf dem ehemaligen Übungsplatz des k.u.k.-Heeres. Mitteleuropa ist mehr als eine in Stein gemeißelte Erinnerung, so das Fazit der deutschen Besucher nach einem Stadtrundgang in der bitteren Januarkälte, mit dem tief eingefrorenen Karlsruhe-Brunnen auf der Alba-Iulia-Gasse. Oder ist alles bloß nur eine Illusion? Sieht man den Kabelsalat nicht, der die Innenstadt weiterhin verunstaltet? Den Müll und die Baureste neben dem Sankt-Georgs-Platz? Das viele weiße Plastik? Die blühenden Second-Hand-Läden auf der Alecsandri-Gasse oder das inzwischen geöffnete Geschäft für Klopapier und Reinigungsmittel auf der Mercy-Gasse, zwischen dem schmücken Zai-Café, der Cărturești-Buchhandlung und dem altehrwürdigen Romfilatelia-Geschäft für Briefmarken? Und das Fiasko des seit Monaten in Betrieb gegangenen Systems für Verkehrsmanagement, das nur Staus produziert? Mit der inbegriffenen Umweltbelastung, versteht sich.
Es gibt noch viele Probleme in der wachsenden Banater Metropole, die meisten müssten bis zum 31. Dezember 2020 gelöst werden. Einige davon können relativ leicht in den Griff bekommen werden, andere wiederum fordern ein radikales Umdenken in der Stadtverwaltung, wozu der nun seit fast fünf Jahren regierende Bürgermeister Nicolae Robu eindeutig nicht in der Lage ist. Seine eigene, mittlerweile geschwächte Stellung in der PNL und die politische Konstellation in Bukarest dürften ihm dazu auch nicht allzu behilflich sein, obwohl weiterhin zu hoffen ist, dass der Banater Sorin Grindeanu, so lange er in der Inszenierung des Regisseurs Liviu Dragnea die Rolle des Premierministers spielen darf, zumindest einige für die StadtTemeswar dringende Projekte in die Wege leiten oder beschleunigen wird. Ähnlich wie es Emil Boc seinerzeit für Klausenburg/Cluj-Napoca getan hat.
Vier Jahre sind es bis 2021, der Countdown läuft. Und die To-Do-Liste wird wahrlich nicht kleiner. Es stehen nicht nur Infrastrukturprojekte auf der Liste, obwohl diese oberste Priorität haben müssten, Top-Thema muss der öffentliche Nahverkehr bleiben, ein arg vernachlässigtes Kapitel, trotz der paar modernisierten Straßenbahnen, die durch Temeswar verkehren.
Es geht jedoch um mehr: Die Temeswarer Wirtschaft bleibt auf Hochkurs, weiterhin ist mit einer hohen Nachfrage an Arbeitskräften zu rechnen, im oberen, genauso wie im unteren Entlohnungsbereich. Und diese Nachfrage wird eben gestillt, mehr schlecht als recht, aber immerhin. Aus anderen Landesteilen kommen verstärkt Arbeitskräfte nach Temeswar; fährt man an einem beliebigen Tag durch die Stadt, trifft man Autos aus mindestens zehn bis fünfzehn anderen Kreisen, Kennzeichen wie CS, HD, MH, GJ oder AR nimmt man inzwischen kaum mehr als etwas Sonderbares dar. Und dann sind es auch noch die Serben, die aus dem serbischen Banat nach Temeswar in wachsender Zahl kommen: zum Studieren oder einfach nur übers Wochenende. Fazit ist, dass einige hier bleiben wollen, Autos mit serbischem Kennzeichen fahren inzwischen selbst durch die Vorortgemeinde Dumbrăvița. Investoren merken das alles und wollen davon profitieren, nicht umsonst baut der Jassyer Iulian Dascălu seine Iulius Mall zur Openville aus, und nicht umsonst investiert Ovidiu Șandor mehrere Millionen Euro in sein ehrgeiziges ISHO-Projekt auf dem ehemaligen ILSA-Gelände. Weitere kleinere Investoren ziehen nach: Auf der Torontaler Straße entsteht an der Ausfahrt Richtung Tschanad/Cenad eines der größten Bürogebäude im Banat, in Girok, Dumbrăviţa, Neumoschnitza/Moşniţa Nouă, in Sackelhausen/Săcălaz und in Schag herrscht rege Bautätigkeit.
Aber gibt es dazu auch einen Plan der Stadt- und Kreisverwaltung? Ein Konzept? Haben sich Bürgermeister Robu, die Bürgermeister der Vorortgemeinden, der Kreisratsvorsitzende, der Flughafen-Direktor, die wichtigsten Investoren der Immobilienbranche, die Leiter der größten Betriebe, der Leiter des Arbeitsamtes, der IHK-Direktor, die Rektoren der vier staatlichen Universitäten u.a. jemals zusammengesetzt und mehr als nur großmaulige Erklärungen produziert? Mehr als nur Paragraphen zur engen Kooperation zwischen Arad und Temeswar, wie zum Beispiel im Sommer 2016? Kaum. Die Stadt kann nicht einmal ihre boomenden Vororte von der Notwendigkeit überzeugen, eng untereinander und natürlich mit Temeswar selbst zu kooperieren, ganz geschweige davon, alle Schlüsselakteure der künftigen Stadtentwicklung an einen Strang ziehen zu lassen. Noch ist nicht klar, was diese Stadt will, wie sie sich in zehn, fünfzehn oder dreißig Jahren präsentieren will. Wie viele Einwohner soll sie haben, welche Industrien, welchen Lebensstandard soll es geben, wie dem Klimawandel begegnet werden soll? Übrigens, über den Klimawandel wird kaum gesprochen, man lehnt sich selbstsicher zurück: Die Stadt des Rosengartens schneidet noch immer besser ab als so manche von den Kommunisten aufgezogene Industriestadt, aber dem EU-Durchschnitt hinkt man auch an der Bega stark hinterher. Und es geht nicht nur um Bäume, derer man wohl nie genug anpflanzen kann, sondern auch um erneuerbare Energien, um die Müllentsorgung oder die Wärmedämmung. Wird hier nicht ein Wandel versäumt, der auch in einer Stadt in der Größe und der Lage Temeswars wichtige Wachstumsimpulse schaffen könnte?
In der Tat, die Aufgabenliste ist lang, aber diese können gelöst werden, wenn man das Ganze rechtzeitig und klug angeht. Man kann Gebäude sanieren, man kann Bäume pflanzen, man kann Parkhäuser aufziehen und Solarzellen auf öffentliche Bauten aufstellen. Man muss dabei nicht derart viel Lärm (vornehmlich auf Facebook) produzieren, der inzwischen zur Eigenmarke Robus geworden ist, aber bitte schön, daran soll es nicht scheitern. Was man so aber nicht unbedingt schaffen kann, ist etwas anderes: Den Geist der Stadt wachzurütteln, Kreativität und Innovation zu fördern, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, die Stadt und ihre Menschen, offener, lebendiger, kultur- und kunstfreudiger zu gestalten, das alles dürfte etwas schwieriger sein. Dafür aber sind das Kulturhauptstadt-Jahr und die vier Jahre bis dahin die beste Chance, die sich Temeswar bieten konnte.