Die Verbindung zur Seele wurde gekappt. In Sergiu Matiş Dystopie beschränkt sich alles nur noch auf Materie. Liebe? Keineswegs ein Thema. Geblieben ist nur pervertierter Sex: Es wird nur sinnlos in Endlosschleife der Akt ausgeübt. Horia Savescu beschreibt den Vorgang bis ins kleinste Detail. Er geht in seiner verbalen Darstellung des Geschlechtsaktes so akkurat vor, wie eine Spracherkennungssoftware, deren Wortschatz nur mit Vulgärsprache gespeist wurde. Manche Zuschauer werden die pornografischen Aussagen zu anrüchig finden, doch gerade darum geht es Matiş. Er will die Zerstörung des Anstandes thematisieren und er möchte provozieren.
Auf den Zuschauer nimmt der Choreograf deswegen keine Rücksicht: Laute atonale Musik, die einem die Haare zu Berge stehen lässt, dröhnt minutenlang aus den Lautsprechern und geht dann in einem Wirrwarr bestehend aus Orgasmusschreien über. Die anfängliche Unruhe wird von einem Gefühl aus Scham oder Amüsement ersetzt. Verscheucht wurde niemand. Werden in Deutschland Zuschauer für weniger aus der Rage gebracht und zum prompten Verlassens des Vorführungssaals angeregt, ist während der Premiere keine einzige Person frühzeitig gegangen, was sowohl erfreulich als auch besorgniserregend ist. Erfreulich, weil es von Offenheit zeugt und besorgniserregend, weil es vermutlich auch zeigt, dass der Zuschauer gehemmt ist, seine Empörung offen auszudrücken.
Denn gerade das macht „Simuliert“ so spannend: Sein Potenzial das Publikum zu spalten und einen Diskurs anzuregen, der durch und durch zeitgemäß ist. Matis geht auf Nummer sicher und schweift besonders gegen Ende des Stückes ab. Damit riskiert er, den Zuschauer zu langweilen. Auch die Performance der Schauspieler (Horia Săvescu, Richard Hladik und Ioana Iacob) und der Tänzer (Idris Clate, Georgeta Corca und Judith State) steht im Missverhältnis zueinander, wenn auch nicht sichtlich störend. Das Gleiche trifft auch auf das Verhältnis Text-Tanz zu. „Simuliert“ zeigt ein bisschen zu viel von allem und weiß nicht, wann genug ist. Das passt zwar zum Thema des Stückes, es wird aber auf Dauer, trotz der schockanten Inhalte, eintönig. Auch das Ende ist viel zu abrupt und lässt Zuschauer im Raum stehen.
Doch trotz der kleinen Unfeinheiten bleibt „Simuliert“ ein spannendes Stück, das den Zuschauer fordert. Besonders Liebhaber zeitgenössischer Science-Fiction-Literatur werden hier auf ihre Kosten kommen: Die Sprache erinnert an William Gibsons frühen Romane, die Fragestellungen an die Werke Philip K. Dicks. Und so wie gute Science-Fiction schafft auch das Stück mehr als bloß eine erschreckende Zukunftsvision auf der Bühne herzustellen. Es wirft Fragen zur heutigen Gesellschaft auf. Fragen, die sich schon Aldous Huxley in den 1930er Jahren mit „Schöne Neue Welt“ stellte. Es ist eine zutiefst abweisende und widerwärtige Welt, in die uns Sergiu Matis eintauchen lässt. Doch wirklich fremd dürfte sie uns eigentlich nicht erscheinen. Vlaicu Golceas Musik erinnert an die Hits, die täglich im Radio und in Clubs laufen, die Bewegung, die Choreografie erinnert besonders junge Zuschauer an das, was man in der heutigen Clubszene antrifft. In „Simuliert“ geht es um eine seelenlose Welt, in der es nur um persönliches Vergnügen durch Sex geht, einem kollektiven Eskapismusdrang und einer zunehmenden Anthropomorphisierung lebloser Konsumgüter, die den Menschen zu ersetzen scheinen, oder, noch viel schlimmer, eine Metamorphose des Menschen in die Maschinen, die er geschaffen hat.