Manche sind in die türkische Falle getappt und haben, als Nato-Mitglieder „den Solidaritätsfall mit dem Alliierten Türkei“ erklärt und die „Bündnistreue zur Nato“ gelobt, die von der Türkei (reichlich spät) an den Tag gelegt wurde. Nachdem in der Nacht vom 24.-25. Juli die türkische Luftwaffe ihre ersten Angriffe gegen den IS und gegen PKK-Einheiten flog, ließ sie sich Zeit, bevor sie eine Dringlichkeitstagung der Nato-Alliierten einberief, um ihren Standpunkt zu erklären. Der Verdacht war aufgekommen, dass der plötzliche Anfall von Bündnistreue, den die Türkei für die Luftschläge nutzte, bloß der Schleier war, mit dem die Angriffe auf die Kurden schöngefärbt und der Nato erträglich gemacht wurden.
Die Kurden sind mit 200.000 Kämpfern die einzige Macht im Vorderen Orient, die der IS die Stirn bieten kann, den hochgerüsteten mittelalterlichen Glaubenskriegern, die unter der Führung entlassener Offiziere Sadam Husseins Nordsyrien und den Nordosten Iraks aufrollen. Regep T. Erdogan, der sich robbend zum Diktator mausernde türkische Staatschef, brach das Waffenstillstandsabkommen mit der PKK der Kurden und griff sie aus der Luft an – wo die Türkei hier die absolute Macht darstellt – und spaltete damit den kurdischen paramilitärischen Block, die einzigen Bodentruppen, die, bei entsprechender Unterstützung, in Syrien und im Irak Ordnung schaffen könnten.
Die Situation ähnelt jener von 1920. Damals musste die Türkei – Verlierermacht des ersten Weltkriegs – aus einer Isolationslage heraus und sich entscheiden, wie sie zum nördlich des Schwarzen Meeres entstehenden Bolschewismus steht. Erdogan hat jetzt die Lage insofern richtig erkannt, als er beschloss, gegen den IS vorzugehen, von dem viele (nicht ganz zu Unrecht) glaubten, dass er sich der insgeheimen Unterstützung der Türkei erfreut, die ihm Nachschubwege, Rückzugsgebiete und nicht zuletzt die Möglichkeit des Zuzugs neuer Kämpfer über die türkischen Flughäfen bot. 1920 glaubte das Abendland, gegen den aufkommenden Bolschewismus unbedingt die Unterstützung der Türkei zu brauchen. Sah ihr dafür die Ausrottungskampagnien gegen die Kurden nach. Jetzt vermeint man, den Vorwand der türkischen Angriffe auf die Kurden schlucken zu müssen, weil die Türkei sich gegen den IS positioniert.
Zum zweiten Mal binnen nicht Mal 100 Jahren werden die Kurden zu Geopferten des selben Staats – dem, der vor einem Jahrhundert den (von den Tätern bis heute abgestrittenen) Völkermord an den Armeniern begangen hat. Und das „zivilisierte“ Abendland schaut zu. Ist der Türkei dankbar für ihren vorgetäuscht zivilisatorischen Militäreinsatz. Dass dabei in der Türkei selber eifrig kurdische Aktivisten verhaftet werden und verschwinden – sind das Kollateralschäden? Wiegt die türkische Erlaubnis, dass amerikanische Bomber die Basen von Incirlik und Diyabakir benutzen dürfen, den sich konturierenden neuen Völkermord auf? Und kann eine neue geopolitische Ordnung im Vorderen Orient nur durch Opferung der Kurden geschehen?