Temeswar/Timişoara ist eine der 14 rumänischen Städte, die den Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2021“ anstreben. Zwischen dem 7. und dem 10. Dezember wird die „kurze Liste“ mit den Ortschaften, die sich um den Titel bewerben, aufgestellt. Um die Stärken und Schwächen der Kandidatur Temeswars zu erfahren, befragten die BZ-Redakteurinnen Iulia Sur und Raluca Nelepcu Hochschullehrer, Schriftsteller, Anthropologen, Journalisten, Ingenieure, Politiker aus Temeswar und Deutschland. Pluspunkte: die Multikulturalität, die historische und architektonische Vergangenheit, die Revolution von 1989. Zu den Schwachpunkten zählen der Mangel an Museen und Gedenkstätten, an kulturhistorischem Verständnis und originellen Ideen, eine schlechte Infrastruktur und der Stumpfsinn der lokalen Behörden. Im Folgenden können Sie die relevantesten Aussagen lesen.
Stärken:das historische Prestige hinsichtlich der Revolution von 1989; die Musiktradition der Stadt; die Multikulturalität, die Ausdruck in den drei Theatern findet: rumänisch, deutsch, ungarisch; die historische Innenstadt.
Schwächen:der Stumpfsinn der lokalen politischen Klasse gegenüber dem Kulturakt; das Nichtvorhandensein eines kritischen Geistes, der künstlerischen Provinzialismus erzeugt; eine spärliche literarische Tradition mit der Ausnahme einiger Erfolge wie die Aktionsgruppe „Banat“ und ein paar rumänischen Schriftstellern wie Sorin Titel und Livius Ciocârlie; Umweltverschmutzung durch die Industrie und chaotische Fahrzeugstaus; stumpfsinnige und Ceauşescu-ähnliche bürokratische Vorschriften, was Street Art betrifft; städtisches Kulturerbe in Not – nicht verputzte, unsanierte Gebäudefassaden; die Unfähigkeit, selbstständige kulturelle NGOs in groß angelegte Kulturveranstaltungen mit einzubeziehen. (Daniel Vighi, Schriftsteller und Hochschullehrer)
Stärken:1. Die Stadt ist multikulturell. 2. Es ist eine Stadt mit Vergangenheit – geschichtlich und architektonisch. 3. Der Kreis und auch darüber hinaus, z.B. das Banater Bergland, bietet reizvolle Ziele, Weinanbaugebiete (z.B. Rekasch) und regionale Gastronomie, Sehenswürdigkeiten (z.B. Maria Radna). 4. Der Gesundheitstourismus: Busiasch, Herkulesbad.
Schwächen: 1. Im Blick auf die zahlreichen Renovierungsarbeiten fehlt der Stadtverwaltung ein Prioritätenkatalog, ein konkreter Arbeitsplan. Touristen, die zur Zeit die Stadt besuchen, sind entsetzt, und kommen kein zweites Mal. „Wir brechen uns hier ja alle Glieder bei der primitiven Absicherung der zahlreichen Baustellen“, sagen sie. 2. Steht das Bürgermeisteramt hinter Temeswar als „Europäische Kulturhauptstadt 2021“? Es sind Zweifel angebracht. Insbesondere im Blick auf die moralische und finanzielle Unterstützung des Vereins „Temeswar – Kulturhauptstadt 2021“. Pflegt der Bürgermeister falschen Stolz, um zu verhindern, dass kompetente Experten für den Verein herangezogen werden? 3. Steht denn Bukarest hinter einer Kandidatur Temeswars als Kulturhauptstadt 2021? Wird es womöglich eine politische Entscheidung nach der „bewährten“ Art der „Vettern-Wirtschaft“? Dann hat Temeswar keine Chance. Denn es sind insgesamt 14 Kandidaten – schon diese Anzahl ist für einen Westeuropäer schwer nachvollziehbar! 4. Die Kriminalität nimmt auch in Temeswar zu. (Elke Sabiel, langjährige Rumänienvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Ehrenvorsitzende des Vereins der Ehemaligen Russlanddeportierten)
Stärken:kulturelle Diversität; erhöhtes künstlerisches Potenzial: Personal in den Bereichen bildende Künste, Theater, Musik, Literatur; außergewöhnliches städtisches Kulturerbe. Schwächen:unausreichende Verwertung des lokalen, inklusive des städtischen Kulturerbes; schwache Infrastruktur; unausreichende Förderung des öffentlichen rumänischen Raumes.(Smaranda Vultur, Hochschullehrerin und Anthropologin)
Was von Anfang an Temeswar falsch gemacht hat, war, nicht zu verstehen, dass es nicht das Dach der Welt ist, denn eine potenzielle Kulturhauptstadt muss ausstrahlen und die gesamte Region miteinschließen. Dieses Defizit, bemerkte ich, als ein berühmtes Jazzfestival – Gărâna Jazz – aus dem Leben Temeswars entfernt wurde, obwohl es von einem Temeswarer organisiert wird und auch das stabile Publikum vorwiegend aus Temeswar stammt. Es ist ein Kulturprodukt der Region, egal, ob es auf dem Semenik-Massiv stattfindet. Diejenigen, die das Konzept „Kulturhauptstadt“ erarbeitet haben, hätten die besten Kulturprodukte der Region miteinbeziehen sollen, unabhängig, aus welchen benachbarten Kreisen sie kommen. Ein zweiter Schwachpunkt ist, dass es der Idee „Europäische Kulturhauptstadt“ nicht gelungen ist, die gesamten kulturellen, intellektuellen und schöpferischen Kräfte zusammenzubringen, zu magnetisieren. Die Sachen wurden irgendwie getrennt, stückweise durchgeführt. Sicher hat man sich bemüht, aber der notwendige Enthusiasmus fehlt. Vielleicht sind die Temeswarer skeptischer, die Veranstalter konnten nicht genügend überzeugen oder der Bürgermeister hat sich zu sehr eingemischt, oder alles in Einem, aber der notwendige Enthusiasmus, der Aufwind schafft, ist nicht da. Ein solches Projekt kann man ohne Aufwind nicht durchführen. Ein dritter Schwachpunkt ist das Herumtasten hinsichtlich des Konzeptes. Erstens ging es um Evolution/Revolution – etwas zu anspruchsvoll, dann um „Channels“, die Kulturkanäle wegen des Bega-Kanals u.Ä., und schließlich um das Licht. Sicher wurzeln alle in der Kultur und Zivilisation des Ortes, aber all das sind irgendwie mühsame Ideen und Versuche. Die „große Idee“ ist noch immer nicht zum Vorschein gekommen. (Brînduşa Armanca, Hochschullehrerin und Senior Editor beim Temeswarer öffentlichen Fernsehsender)
Stärken: eine plurikulturelle Stadt, wie es keine andere in Rumänien gibt; drei historische öffentliche Plätze, die miteinander in Verbindung stehen: Domplatz, Freiheitsplatz und Sankt-Georgs-Platz; die Corneliu-Baba-Kunstausstellung. Schwächen: Es gibt keine Gedenkhäuser und Museen, wie es sich für so eine Stadt gehören würde; die nicht sanierten historischen Gebäude – in 25 Jahren wurde in dieser Hinsicht zu wenig gemacht; es gibt aktuell überhaupt kein Verkehrskonzept. (Radu Băncilă, langjähriger Leiter der Abteilung für Bauingenieurwesen in deutscher Sprache an der TU Politehnica)
Stärken: 1. Temeswar ist Stadt der Revolution. Das spricht für eine lebendige, mutige Zivilgesellschaft. 2. Temeswar ist eine „Multi-Kulti-Stadt“: Hier leben Serben, Rumänen, Deutsche, Ungarn, aber auch Araber friedlich und zum gegenseitigen Vorteil miteinander. 3. Temeswar ist „Fortschritts-Stadt“: Früher gab es hier die erste elektrische Straßenbahn und die erste Stadtbeleuchtung. Heute findet man da viele moderne Unternehmen mit zukunftsweisender Produktpalette (Beispiel: IT-Firmen, Soft, Automotive).
Schwächen: 1. Die Infrastruktur ist veraltet: Kein vernünftiges Verkehrskonzept, viel zu viel Verkehr. Man hat zuerst die Fußgängerzonen eingerichtet und danach überlegt, ob und wo man Parkhäuser bauen soll. Das müsste genau umgekehrt sein. 2. Temeswar achtet nicht auf sein kulturelles und historisches Erbe: Für eine zukünftige Kulturhauptstadt ist es ein „No Go“, wertvolle archäologische Funde wie das türkische Bad am Freiheitsplatz einfach wieder zuzuschütten. Dass man es wieder zugeschüttet hat, deutet auf wenig kulturhistorisches Verständnis bei den Entscheidungsträgern hin. Auch das Banater Museum im Hunyadi-Schloss ist schon seit Jahren nicht mehr zugänglich. 3. Es gibt keine deutsche Kneipe/Wirtschaft mehr in der ganzen Stadt – und das, obwohl es eine banatschwäbische Tradition gibt. Wo kann man schwäbischen Wurstsalat, Schweinshaxe mit Sauerkraut sowie Blut- und Leberwurst bekommen? Eine echte Marktlücke in einer Stadt mit dieser Tradition… (Thomas Wagner, freier Journalist aus Deutschland)
Ein Pluspunkt wäre die Multikulturalität, die gemeinsame Geschichte der unterschiedlichen Ethnien. Ich bevorzuge den Ausdruck „Interkulturalität“, wo jede Nation, Religion und Kultur seinen Beitrag zur Gesellschaft leistet. Ein neutraler Punkt, der sowohl negativ, als auch positiv bewertet werden kann, ist die Geschichte. Eine coole Geschichte: Rumänen, Ungarn, Deutsche, drei Theater unter einem Dach, Premieren, Revolution, Demokratie, Freiheit. Aber es kandidiert TM2021, und nicht TM1989, oder TMvor1918. Wir haben ein einziges richtiges Museum! (Ich würde auch das Dorfmuseum hinzuzählen, aber wir sollten uns zuerst jenes aus Bukarest anschauen) Eine weitere Stärke ist die alternative Kultur, die nicht beworben wird. Es gibt private Theater wie „Auăleu“, es gibt ein Museum des kommunistischen Verbrauchers bei „Scârţ. Loc lejer“, es gibt Cafés mit Kulturveranstaltungen, Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen und Konzerten. Und zu den Schwächen: die Kommunalverwaltung und der Verein „Temeswar – Kulturhauptstadt 2021“, der verkrampft und verstaubt ist. Alle schieben die Schuld auf die ausbleibenden Finanzierungen, aber keiner würde eine originelle Idee umsetzen. Wenn wir aus Temeswar nicht eine Stadt machen, die von Kultur vibriert, dann können wir nur hoffen, dass der Kulturhauptstadt-Titel nach politischen Kriterien sozusagen verlost wird. Eine weitere Stärke sind die jungen Menschen, die hier leben und die sich diesen Titel wünschen, die die Stadt wirklich als eine Kulturhauptstadt betrachten. (Lucian Blaga, Hochschullehrer in Deutschland)
Schwächen: 1. Das Kulturmanagement wird ausschließlich vom Bürgermeister Nicolae Robu gemacht. Wir bräuchten ein politisch unabhängiges, professionelles Team von Kulturfachleuten. 2. Das Bürgermeisteramt veröffentlicht nicht mehr zum Jahresende Ausschreibungen für Kulturprojekte, sondern verschickt das ganze Jahr über Pressemitteilungen, in denen verschiedene Kulturprojekte angekündigt werden. Nach welchen Kriterien wurden diese ins Leben gerufen? Von der Partei? Wo bleibt die Transparenz? 3. Der Stadtrat, der sich den Wünschen des Bürgermeisters unterordnet, wenn es um Kulturprojekte geht. Die Idee eines technischen Museums ist wegen der Unfähigkeit der Stadträte einfach verschwunden.
Schwächen: 1. Die Banater Multikulturalität. 2. Eine vorwiegend barocke Innenstadt (wo leider Statuen der Art „Supermam“ erscheinen...) (Dusan Baiski, Journalist, Schriftsteller und Gründer der Online-Enzyklopädie Banaterra)