„Gibt es überhaupt eine österreichische Literatur? Oder, genauer gefragt, was ist das „Österreichische“ in der österreichischen Literatur?“ Brisant formulieren Germanisten heute die Fragen, die sie zu Diskussionen, aber auch ein breiteres Publikum zum Zuhören und Nachdenken anregen sollen.
Vor Kurzem ist im Wiener Praesens-Verlag das Buch „Österreichische Literatur. Traditionsbezüge und Prozesse der Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart“ erschienen. Herausgeberinnen sind die Temeswarer Germanistinnen Laura Cheie, Eleonora Ringler-Pascu und Christiane Wittmer, Österreich-Lektorin an der West-Universität Temeswar.
Der vorliegende Band beinhaltet Beiträge zur österreichischen Literatur und Kultur, die 2016 auf der Jubiläumstagung „Germanistik zwischen Regionalität und Internationalität – Internationale Tagung ‚60 Jahre Temeswarer Germanistik‘“ präsentiert und diskutiert wurden. Die österreichische Literatur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart aus heutiger Sicht im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation war das Thema, mit dem sich eine eigens dafür eingerichtete und vom österreichischen Kulturforum Bukarest geförderte Sektion befasste.
Der Band bietet eine Wanderung durch die von österreichischen Autoren erschaffene Lesewelt der letzten (fast) 200 Jahre, indem man in der Betrachtung von fachmännischen Augen begleitet wird. Es gilt, Literatur zu genießen, aber mehr noch zu verstehen, einzuordnen und oft auch harte Brocken zu bewältigen, wenn die Thematik es verlangt.
Die Beiträge sind fünf Großthemen subsumiert: „Zur literarischen Verortung“, „(Post-) Moderne Befindlichkeiten“, „Von Sinn und Unsinn“, „Autorschaft, Poetik und Kritik der Sprache“ und „Kulturräume – Gedächtnisräume – Kommunikationsräume“. Die Autoren der Beiträge sind Germanisten und Germanistinnen aus Österreich, Norwegen, Südafrika, Ungarn, Polen, der Slowakei und Rumänien.
Es ist die Wiener Universitätsprofessorin Konstanze Fliedl, die die eingangs aufgezählten Fragen stellt und beantwortet, indem sie die fünf Kriterien anhand deren über „das Österreichische“ in der österreichischen Literatur argumentiert wird – Nation, Territorium, Kultur, Stil und Themen – in Frage stellt.
Kathleen Thorne, Irina Hron und Eleonora Ringler-Pascu reflektieren über postmoderne Befindlichkeiten in der österreichischen Literatur, wie Endzeitstimmung, Erosion der Privatsphäre oder die Kommunikationslosigkeit im Zeitalter der Kommunikation, die Vereinsamung im Web und auf sogenannten sozialen Netzwerken und die wiederkehrende Frage: Wieviel sollte an einer Beziehung eigentlich digital sein, wieviel direkt, damit der Mensch sich glücklich und erfüllt fühlt?
Das Werk das Eleonora Ringler-Pascu dabei berücksichtigt, ist Volker Schmidts Drama „Eigentlich schön“ – den Temeswarern dürfte der Titel mindestens aus der Produktion bekannt sein, die am Deutschen Staatstheater Temeswar im Jahr 2015 Premiere hatte und bei der der Autor selbst Regie geführt hat. So ziert das Cover des Buches ein Foto von der oben genannten Inszenierung.
Nach „Sinn und Unsinn“ recherchieren Attila Bombitz und Laura Cheie in den Werken von Daniel Kehlmann und Paul Celan. Um pseudoerkenntnistheoretische Fragestellungen geht es Attila Bombitz, Laura Cheie sucht nach den Narren – ob Wahnsinnige, Schelmen oder Clowns – die Paul Celans Werke wie auch allgemein die deutschsprachige Literatur der 1950er bis 1970er Jahre bevölkern.
Erzsébet Szabó bietet eine Neuinterpretation von Arthur Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else“ und Jadwiga Kita-Huber nimmt sich Thomas Glavinic’ Romane „Das bin doch ich“ und „Der Jonas-Komplex“ vor. Eva Höhn vergleicht die Auffassungen zweier Generationen von SchriftstellerInnen über Sprache und die Aufgabe der Literatur: die Generation, die in den 1970er Jahren und jene, die in den 1980er Jahren angefangen hat zu schreiben.
Letztendlich gilt es österreichische Kultur-, Gedächtnis- und Kommunikationsräume zu erforschen: Christiane Wittmer interpretiert Regine Goldschlägers „Die Königin von Saba. Ein moderner Sittenroman“ als frühe feministische Literatur. Elin Neslje Vestli untersucht Martin Pollacks „Kontaminierte Landschaften“ sowie andere Essaybände, in denen Orte zu Gedächtnisräumen werden. Schließlich geht es bei Cristina Spinei um die Bukowina als Peripherie der Habsburgermonarchie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und um einen offenen, pluriethnischen Kommunikationsraum.
Der Band ist dank der finanziellen Unterstützung durch das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft erschienen.