„Im russisch-hebräischen Dialekt, der in Marc Chagalls Geburtsort Witebsk gesprochen wird, gibt es kein Wort für Kunstmaler. Trotzdem wurde er einer der bedeutendsten Künstler des XX. Jahrhunderts“, so stellte Thomas Emmerling, der Kurator der Lithografienausstellung „Marc Chagall – Bibelillustrationen“, den Meister vor. Das Kunstmuseum Temeswar beherbergt zurzeit die 150-Exponate-schwere Ausstellung, die ausschließlich Werke, die sich im Besitz des Kurators und Sammlers befinden, der in Temeswar schon mit anderen Ausstellungen präsent war. Bei der Vernissage am vergangenen Donnerstag, haben Victor Neumann, der Direktor des Kunstmuseums Temeswar, und der Kurator Thomas Emmerling das Wort ergriffen.
Marc Chagall ist einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, der neben Gemälden umfangreiche Radierzyklen sowie lithografische Arbeiten hinterlassen hat. Mit der lithografischen Technik hat er sich relativ spät befasst, erreichte hier innerhalb kürzester Zeit eine außergewöhnliche Meisterschaft.
40 von den in Temeswar ausgestellten Lithografien führen dem Publikum einen besonderen Teil von Marc Chagalls Schaffen vor Augen: Sie sind nach einer Reise ins Heilige Land entstanden, die Eindrücke, die der Künstler dabei gewann, sind eigenen Aussagen zufolge die stärksten in seinem Leben gewesen. Der Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard hatte Chagall mit den Illustrationen zum Bibeltext beauftragt, diese sind in der Zeitspanne 1931-1939 entstanden. Chagall wandte sich dann noch einmal ab 1952 dem Thema zu. Für seine Illustrationen hat sich Chagall intensiv mit dem Studium der Werke von Rembrandt und El Greco befasst.
Für Thomas Emmerling gilt: „Die Bibelillustrationen sind von einem jüdischen Standpunkt aus entstanden, es ist aber wahrscheinlich der christlichste unter den jüdischen Standpunkten. Das spricht von Chagalls Bedeutung im christlich-jüdischen Dialog, vor allem im heutigen Kontext“. Die kraftvollen Farben, die man aus Chagalls Werken kennt, sind auch in diesem Zyklus präsent. Die Schöpfung ist in Chagalls Perzeption blau, nur die Konturen sind schwarz und die himmlischen Kräfte weiß. Blau ist für Chagall nämlich das Sinnbild des Transzendentalen. Für die Cain-Abel-Szene des Brudermordes verwendet der Künstler das Rot, das für Chagall die Farbe der Leidenschaft darstellt. Der betende Hiob wird grün dargestellt, die Farbe der Liebe in Chagalls Konzeption, denn das Beten ist eine Brücke zum himmlischen Herrn. Gott selbst, im Augenblick, als er den Fluch über die in Sünde gefallene Eva ausspricht, ist grün, denn Gott ist eben Liebe.
Eine weitere Serie von Lithografien führt den Besucher nach Paris, vorwiegend an die „Opéra Garnier“, für die Marc Chagall das Deckengemälde gemalt hat: Das 220 Quadratmeter große Werk, das eine farbenfrohe Hymne an die Musik wurde, entstand auf großen Leinwandstücken, die anschließend an die Decke angebracht wurden: „Sie könnten wann immer weggeräumt werden, doch mittlerweile gehört es zum Kulturerbe“, so Thomas Emmerling, der den Besuchern der Vernissage eine Tour durch die Ausstellung angeboten hat. Alles spricht heute für das Deckengemälde, das in den 1960er Jahren, bei seiner Entstehung, zu großen Kontroversen geführt hatte: Die zeitgenössische Kunst im historischen Operngebäude wurde in der Presse heftig debattiert. Eine der Lithografien überträgt noch den Wunsch Marc Chagalls in seiner Handschrift: „Ich wünschte, unter jenen Zeitgenossen zu sein, die Garnier eine bleibende Hommage bringen“.
Die Ausstellung birgt auch drei Schwarz-Weiß-Fotos, die von Marc Chagalls Freund, dem Fotografen Israel Bidermanas gemacht wurden und den Künstler während der Arbeit an der Deckenmalerei zeigen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung führt den Besucher ans Mittelmeer, nach Griechenland: Es handelt sich um eine Serie, in der Chagall den Odysseus-Stoff verarbeitet. Die Farben treten auch hier in den Vordergrund, wobei sehr wichtig die Überlappungen sind. Die Wahl der Farben kann überraschend sein: In der Liebesszene zwischen Ares und Aphrodite ist der Kriegsgott, nicht die Liebesgöttin grün und somit stark verliebt.
„Marc Chagall war ein sehr aufgeschlossener Mensch. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Ausstellung in Temeswar gezeigt wird“, erklärte der Kurator Thomas Emmerling noch zum Schluss.