Sonntag, beim Verlassen des Wahllokals, fiel mir eine Aussage von Henri Coand² ein: „Viele Individuen der modernen Gesellschaft sind wie Ruderer in einem Ruderboot: sie rudern aus Leibeskräften – aber sie haben der Zukunft den Rücken zugekehrt.“ Ich fragte mich, ob in meinem Ruderboot ausreichend Ruderer der Zukunft den Rücken zugekehrt haben, um schneller als die Ruderer aus anderen Ruderbooten wenigstens einen Teil jener Zukunft von Angesicht zu Angescht zu sehen, für welche ich/wir gestimmt hatte(n).
Das konnte ich Sonntag natürlich nicht wissen. Ich weiß es auch jetzt nicht, da ich diesen Beitrag im Computer abspeichere. Nach dem 16. November werde ich es wohl erahnen. Können. Hoffen darf ich aber, dass nach diesem Sonntag im November 2014 nicht noch ein Player-Präsident ins Amt kommt, der alle Gesetze und Gesellschaftsregeln mit Füßen tritt und sein eigenes Ego heiligt. Hoffen, dass der Nächste unabrückbar die politischen Abenteuer des Zaren Putin verurteilt. Dass es ihm gelingen wird, eine akzeptable Balance zwischen Korruptionsbekämpfung, Zensurierung von Übergriffen jeder Art (auch der Geheimdienste) durch starke Institutionen des Rechtsstaats, dem Abbremsen der Justiz auf ihrem möglichen Weg in Richtung polizeistaatähnliche Einrichtung und erste Schritte zur Normalisierung in Richtung Wohlstand auszutarieren. Und natürlich, dass der Neue (keine Weiblichkeitsform, 2014) Schluss macht mit der jedem Regieren schädlichen Spannung zwischen Präsidial- und Regierungspalast, indem endlich klare Grenzen markiert – und respektiert werden. Auch mit dem Preis, dass dazu Adjustierungen des Grundgesetzes nötig wären.
Da ich mich am Sonntag aber, beim Verlassen des Wahllokals, mit dem Rücken zur Zukunft stehen fühlte (nur der Steuermann sah die Zukunft vor sich – hoffe ich...), ging mir auch eine andere Perspektive durch den Kopf. In einer Paraphrase der hervorragenden Ungarnkennerin Anamaria Pop lautete die: `Nach Wahlgewinn begann eine Stück-für-Stück-Demontage der Stützpfeiler des Rechtsstaats, die radikale Veränderung des Grundgesetzes, des Wahlgesetzes, des Strafgesetzbuchs (offensichtlich: alles zum Eigenvorteil des Wahlgewinners und seiner Clique), Ausbau des Prinzips der Autokratie (und sei es auch nur der Staatspartei), megalomanische (Kirchen-)Bauten aus Staatsmitteln, Betonung der Rehabilitierungstendenzen für verurteilte und hingerichtete Kriegsdiktatoren, Legalisierung der Mafiotisierung des Systems, Verstaatlichung und Rückgängigmachung von Privatisierungen (zugunsten eigener Oligarchen/Barone), Aufeinanderhetzen von Minderheiten und euphorisierte Verherrlichung des Staatsvolks, Verfolgung/Verengung des Wirkungsradiusses von bürgerlichen Organisationen usw.´
Ich habe bei den Beobachtungen von Anamaria Pop nur Schlüsselwörter ersetzt oder an Rumänien angepasst. Eigenbeiträge in Klammern. Sie beschreibt das heutige Ungarn von Viktor Orbán.
Es ist schlimm, mit dem Rücken zur Zukunft gewandt zu rudern.