Sie sind die Kinder, die sich keine Ferien wünschen. Denn in den Klassenräumen gibt es Heizung, Strom und Computer - für viele, ein Luxus, der zu Hause fehlt. Die Armenkinder im Temeswarer Stadtteil Ronatz leben in Zelten oder in verlassenen Häusern, essen oft nur eine Mahlzeit am Tag und gehen ohne Pausenbrot in die Schule. Großfamilien teilen sich meist einen Raum. An Platz zum Spielen oder etwas Privatsphäre ist gar nicht zu denken. Das Geld, das die Eltern verdienen, reicht kaum zum Überleben.
Ein Tageszentrum für sozial benachteiligte Kinder der Organisation „Salvaţi copiii“ geht das Problem aktiv an: Die Kinder werden täglich mit einer kleinen Mahlzeit versorgt, bekommen zum Teil Unterricht und Unterstützung bei den Hausaufgaben. Die Familien werden entlastet und die Kinder laufen nicht Gefahr, auf der Straße zu landen. Die Finanzierung wird jedoch immer knapper, die Anzahl der Kinder immer größer.
Jedes Mal wenn die Lehrerin Isabela Dişa den Kleinen etwas mitbringen will, muss sie das Geld sorgfältig zählen, so dass es ausreicht. Für alle 18 Kinder. Es darf keine Ausnahmen geben. Keiner soll ausgelassen werden. Sie macht das oft: Rechnet aus, teilt ein, bringt etwas mit. Mal Schokolade, mal neue Hefte, mal etwas Warmes zum Essen. Denn sie weiß, dass dies für viele der Kinder noch ein Luxus ist. Es sind Kinder, die den ganzen Tag nur mit einem in der Tagesstätte erhaltenen Schokoladenbrötchen durchstehen müssen, weil die Eltern kein Geld fürs Essen haben.
Kinder, denen die Lehrerin das Betteln abgewöhnen musste und sie ins Tageszentrum „Salvaţi copiii“ in der Grundschule Nr. 11 in Temeswar/Timişoara brachte.
Besser in der Schule als zu Hause
Wenn man Geschichten wie diese kennt, will man immer wieder etwas mitbringen und helfen. „Es sind traurige Schicksale“, so Isabela Dişa und blickt durch den Raum. In einer Ecke sitzt der 8-jährige Ionuţ, von der Mutter verlassen, von einem strengen Großvater erzogen, der sein Enkelkind nur ungern in die Schule schickt. Oft packt der Kleine die Hälfte seines Brötchens in einer Serviette ein, um es beim Abendbrot zu essen. Daneben sitzt Alex, 10 Jahre alt. Er hat noch acht Geschwister, alle wohnen mit Eltern und Großmutter in einem Raum, ohne Bad und Küche.
Die 9-jährige Elena soll bereits zum dritten Mal umziehen, diesmal aufs Land. Die Eltern und die acht Geschwister ziehen in das ehemalige Haus einer Tante. Vielleicht gibt es dort Leitungswasser oder zumindest eine richtige Heizung, so die Hoffnung der Familie. Im verlassenen Haus in Ronatz, wo Elena derzeit lebt, gibt es so was nicht. Es ist aber viel besser als vor einem Jahr, als sie in einem Zelt wohnen mussten. Ja, die Eltern arbeiten, nickt die Kleine. Bei Retim, dem Temeswarer Unternehmen für Müllentsorgung. Verdienen aber den Mindestlohn – viel zu wenig, um sich eine Miete in Temeswar leisten zu können.
Es sind Schicksale aus den Randschichten der Gesellschaft. Geschichten von Armut und überforderten Müttern und Vätern. Von Kindheiten, in denen nicht einmal ein Teller warmer Suppe vorkommt. Kinder, die sich keine Ferien wünschen, weil die Schule der einzige Platz ist, wo sie Heizung, Strom und einen Computer finden können. „Sie haben mich gefragt, ob sie nicht auch zu Weihnachten hierher kommen können, weil es wärmer ist und weil sie hier Platz zum spielen haben“, erzählt Isabela Dişa.
Kein warmes Mittagessen
Das Tageszentrum „Salvaţi copiii“ in der Grundschule Nr. 11 ist Teil des Projekts „Eine zweite Chance“ und wurde vor vier Jahren geöffnet. Schüler der ersten bis zur vierten Grundschulklasse aus sozial benachteiligten Familien können sich hier treffen, gemeinsam spielen und lernen. Täglich, von 12 - 16 Uhr. Dadurch sollen Schulschwänzen und das frühzeitige Verlassen der Schule vermieden werden. „Das Problem ist aber, dass sie ab der fünften Klasse wieder auf sich allein gestellt sind, weil wir nicht genug Platz und Personal haben“, so die Lehrerin Isabela Dişa.
Insgesamt seien es über 50 Schüler der Grundschule Nr. 11, die Betreuung brauchen. Über 250 sind es in Temeswar. Fälle, die von Sozialarbeitern identifiziert wurden. „Es gibt noch viele Fälle, die uns nicht bekannt sind“, so Dişa. Ab und zu, lässt die Lehrerin auch die älteren Kinder eine Weile am Computer spielen und hilft ihnen bei den Hausaufgaben. „Die guten Voraussetzungen gehen bei diesen Kindern verloren, wenn sich niemand mehr um sie kümmert“, sagt die Lehrerin.
Besonders wichtig ist hier der Nachhilfeunterricht und die Unterstützung bei den Hausaufgaben, denn Zuhause haben die Kinder niemanden, der ihnen hilft oder Fragen beantworten kann. Die Lehrer bemängeln, dass in vielen Familien auf Bildung keinen Wert gelegt wird. "Manche Eltern sind auch Analphabeten und können den Kleinen nicht helfen", sagt Dişa.
Auch der Spaß kommt im Tageszentrum nicht zu kurz. Die Mädchen und Jungen schließen sich in Gruppen zusammen und organisieren selbst Freizeitaktivitäten. Sie werden täglich auch mit einer kleinen Mahlzeit versorgt. „Wir können den Kleinen aber nur zwei Brötchen anbieten, die wir täglich von einer Konditorei bestellen.
Für eine tägliche warme Mahlzeit reicht das Geld nicht aus“, so die Lehrerin. Ab und zu wurde Kleidung gespendet. „Das größte Problem bei vielen Kindern sind aber die Schuhe, sie haben keine richtigen Winterschuhe. Die meisten haben nur das eine Paar, das sie das ganze Jahr hindurch tragen“, erzählt Dişa.
„Danke“ und „bitte“ lernen
Für Isabela Dişa gehen die täglichen Verantwortungen weit über das normale Unterrichten hinaus: Denn sie muss nicht nur mit Hausaufgaben und Spielaktivitäten klar kommen. Sie muss bei Kindern Motivation hervorrufen, trotz Armut und Hoffnungslosigkeit. Für viele sind Respekt und Höflichkeit noch ein Fremdwort. „Sie müssen lernen, wie sie mit anderen kommunizieren sollen. Ich muss ihnen die Schimpf- und Fluchworte abgewöhnen, ihnen die Wörter ´danke´ und ´bitte´ beibringen“, erklärt Dişa.
Am schwierigsten ist es aber, wenn sie den Kleinen alltägliche Sachen erklären muss: So etwa, dass ein normales Mittagessen auch drei Gänge haben kann, dass der Film im Kino auf die große Leinwand ausgestrahlt wird. Da sei die Traurigkeit am bittersten. „Bei einer Feierlichkeit hat uns eine Cateringfirma eine Mahlzeit gespendet, mit allem was zu einem Mittagessen dazugehört. Suppe, Kartoffeln, Braten, Dessert. Da haben die Kleinen richtig gestaunt, wussten gar nicht, wohin mit dem vielen Essen“, erinnert sich die Lehrerin.
Kinder, am meisten armutsgefährdet
Vielen Kindern aus sozial schwachen Familien ist ihre Lage bewusst. Hänseleien sind an der Tagesordnung. Armut drückt sich nicht nur durch fehlende finanzielle Mittel aus sondern auch durch Frustration, durch das Gefühl zum abgehängten Teil der Gesellschaft zu gehören. „Der Bruder von Elena ist nicht mehr in die Schule gekommen, als sie im Zelt wohnen mussten. Er hat sich dafür geschämt“, erzählt Isabela Dişa. Und wie kann man diese Kinder aufmuntern? Dass es besser wird? „Wird es aber besser?“, fragt sich Isabela Dişa.
Es sind vor allem die Kinder, die in der Europäischen Union am meisten von Armut bedroht sind, so das Ergebnis einer Studie: Laut EU-Statistikamt Eurostat ist jedes fünfte Kind in Europa von Armut betroffen. Rumänien schneidet dabei besonders schlecht ab: Hier lag die Quote bei 33 Prozent, gefolgt von Bulgarien, Italien und Lettland. 17 Prozent der EU-Bevölkerung ist den materiellen Nöten ausgesetzt, mit den höchsten Anteilen in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Lettland. Die niedrigste Rate - 4 Prozent - wird derzeit in Luxemburg, den Niederlanden und Schweden registriert.