Der Kalender der Honterusgemeinde für das Jahr 2025 ist mit einer bemerkenswerten Reihe historischer Fotografien versehen. Sämtliche dieser Fotografien stammen aus Gemeindebesitz und wurden von Frank-Thomas Ziegler und Camelia Neagoe im Zuge der Vorbereitungen zur Bestandserschließung zutage gefördert. Eine der vier Fotografien des Novemberblattes zeigt den jungen Schriftsteller Adolf Meschendörfer in Begleitung einer kleinen Gesellschaft. Der Bitte von Frank-Thomas Ziegler, der Identität von Meschendörfers Begleitern nachzuspüren, bin ich gerne nachgekommen und stelle meine Ergebnisse auf seine Anregung hin gern einem breiteren Publikum zu Verfügung.
Die vorliegende Fotografie ist ein hervorragendes Beispiel für die intensive Vernetzung von Gründerfamilien in Kronstadt. Eine kleine Personengruppe schart sich auf einer Wiese um einen Nussbaum: zwei Herren, zwei Damen, drei Buben und ein Mädchen. Ein Hund räkelt sich im Gras, das unter dem Nussbaum kurz gemäht ist; im Hintergrund erblickt man einen Gartenzaun.
Die Szene wirkt spontan aufgenommen, ist es aber nicht: Um 1900 war es noch nicht üblich, überall eine Kamera dabeizuhaben, um mal schnell einige Schnappschüsse zu erledigen. Üblicherweise wurde ein Berufsfotograf angefordert, der die Personen sorgfältig platzierte; man kleidete sich adrett. Alles scheint so wirken zu wollen, als sei die Gruppe zu einem eleganten Picknick oder Spaziergang ausgerückt. Und obschon es sich hierbei wahrscheinlich um die Arbeit eines Amateurs handelt, gab es auch für diese Fotografie einen besonderen Anlass.
Etwas überraschend ist die Positionierung Meschendörfers im Bild: er steht, leicht abgesondert, im unmittelbaren Vordergrund. Ein Windstoß sorgt für verwischte Partien: er läßt Meschendörfer jäh zwinkern, bringt Haar und Krawatte in erhebliche Unordnung. Diese kleine Unregelmäßigkeit auf dem ansonsten weitgehend gelungenen Gruppenbildnis stand der Bewahrung der Fotoplatte wohl auch deshalb nicht im Wege, weil es sich bei ihr um die Gefälligkeitsarbeit eines befreundeten Amateurfotografen handelte: Friedrich Miess, einer der bedeutendsten Kronstädter Maler und Grafiker überhaupt.
Bei derselben Gelegenheit fertigte Miess eine weitere Fotografie an. Auf dieser zweiten Fotografie ist dieselbe Personengruppe in leicht geänderter Aufstellung verewigt. Hier zeigt sich Adolf Meschendörfer darum bemüht, den mitgeführten Hund liebevoll mit einem Spazierstock zu necken. Diese Fotografie hat sich, wie die erstere auch, in Gestalt einer Fotoplatte aus Glas im Gemeindearchiv erhalten, darüber hinaus aber auch in Form eines historischen Abzugs auf Papier. Auf diesem letzteren finden sich zwei handschriftlich hinzugefügte Vermerke. Der eine hält Miess als Autor der Fotografie fest, der andere den Datierungsvorschlag „1906?“.
Die Beziehung zwischen Adolf Meschendörfer und Friedrich Miess hatte nicht bloß eine einzige Dimension. Zwar ist die Zusammenarbeit der beiden Männer im Zuge der Herausgabe der Zeitschrift „Die Karpathen“ längst legendär, jedoch bestand darüber hinaus ein entferntes Verwandschaftsverhältnis: Ludwig Miess, Bruder des Malers und Lederhändler von Beruf, war mit Adolfs Cousine Hermine Meschendörfer verheiratet.
Wer sind aber nun die anderen, unter dem Nussbaum weilenden Personen? Adolf Meschendörfer sollte 1908 Cornelia Rhein, die Tochter des Tuchfabrikanten Wilhelm Rhein, ehelichen. Den Traumatrikeln zufolge walteten der spätere Fabrikant Karl Schiel, ein Jahrgangskollege Adolfs, und der Eisenhändler Eduard Galtz (geb. 1866) dabei als Trauzeugen. Eduard Galtz hatte bereits 1893 Luise Meschendörfer (geb. 1873), die ältere Schwester Adolfs, zur Frau genommen. Anhand einer Fotografie aus Familienbesitz, das die Brautleute zeigt, sowie ihrer Kinder Ilse (geb. 1894) und Gerhard (geb. 1901), lässt sich diese Familie auf unserer Fotografie eindeutig identifizieren.
Eduard Galtz war Mitgründer der Eisenhändlerfirma Thomas, Scheeser & Galtz mit ihrem Ladengeschäft in der Flachszeile Nr. 24 am Kronstädter Marktplatz. Beide Namen, sowohl Thomas als auch Scheeser, treten in der erweiterten Familie Meschendörfer auf. Mitgründer des Eisenhofs waren 1889 Alfred Thomas und Ernst Scheeser. Es waren die Jahre der Gründerzeit, und die wohlhabenden Kronstädterinnen und Kronstädter heirateten untereinander. Eduard Scheeser, der Bruder von Ernst, heiratete Ida Meschendörfer, die Cousine Adolfs, und Elisabeth Thomas war Adolfs Großvater mütterlicherseits, dem Riemermeister Johann Boltesch, angetraut. Der Gründer Alfred Thomas war Bruder des Mädchenschuldirektors Friedrich Thomas, dessen Nachfolger in diesem Amt 1913 Adolf Meschendörfer wurde. Adolfs jüngerer Bruder Arnold betätigte sich ebenfalls als Eisenhändler und fiel 1914 im Weltkrieg als Dreißigjähriger. Uns Kronstädtern wurde das Glück zuteil, dass der bittere Kelch der Weltkriegsteilnahme an unserem Dichter Adolf Meschendörfer vorbei ging, und dass er auch später nicht Opfer des berüchtigten Schriftstellerprozesses, wie dies etwa Erwin Neustädter beides erleiden musste, wurde.
Die offensichtliche Ähnlichkeit der beiden jungen Frauen auf der Fotografie könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich um Schwestern handelt. In der jungen Frau im dunkleren Kleid dürfen wir deshalb möglicherweise Josefine Meschendörfer (geb. 1875), genannt Pepi, erkennen. Pepi hatte 1896 den Sparkassadirektor Fritz Jakobi (geb. 1871) geheiratet. Fritz Jakobi war der jüngste Sohn des Kronstädter Bürgermeisters Karl Jakobi. Bei den beiden Buben, die auf der Fotografie im matching dress erscheinen, d. h. Kleidung gleicher Gestalt tragen, handelt sich es wohl um ihre beiden Kinder Fritz (geb. 1897) und Richard (geb. 1901). Fritz Jakobi sollte 1944 in der Deportation im sowjetischen Lager Almasna sterben. Richard Jakobi wurde nicht nur Forstingenieur und Ornithologe, sondern auch ein bekannter Autor von Tiergeschichten. Das bekannteste Buch war wohl „Das Mädchen und die Bärin“, aber auch „Karpatenzauber“ und „Adebar fliegt nach Süden“ waren vormals beliebt. Als Kustos der ornithologischen Sammlung des Burzenländer Sächsischen Museums ordnete und bereicherte er die Sammlung beträchtlich.
Zu der Szene passt schließlich die Datierung in das Jahr 1906 recht gut. Die Familie Galtz erscheint darin als einzige vollzählig und dazu auch noch in der Bildmitte – ihr also fällt die Hauptrolle zu. So darf vielleicht angenommen werden, dass der Anlass zu den beiden bezaubernden Fotografien in der Feier von Eduards 40. Geburtstag (geb. 23. Mai 1866) zu sehen sein könnte.