Das demografische Bild der Gemeinde Neustadt/Cristian hat sich in den neunziger Jahren stark verändert. Viele wanderten ab, viele kamen hinzu. Die Nachbarn wurden neue. Die Nachfahren der einstigen Gründer der Ortschaft, die Siebenbürger Sachsen, galten schon längst als Minderheit. Die Zeit entwickelte ein gutes Einvernehmen der beiden unterschiedlichen Gemeinschaften und Kulturen (rumänisch und sächsisch). Die jüngere Vergangenheit zeigte uns, wie wichtig eine „gute Nachbarschaft“ sein kann und inwieweit sie sich positiv auf das Gemeindeleben auswirken kann. Es wurden mehrfach Veranstaltungen in gemeinsamer Zusammenarbeit organisiert und erfolgreich durchgeführt
. Dieses Gemeinsame veranlasste die Geburtsstunde folgender Vision: Die evangelische Kirchengemeinde, deren Hauptbestandteil die deutsche Minderheit darstellt, bietet einem kleinen Kreis der Mehrheitsbevölkerung an, ihre eigenen Leute als Minderheit lebend, kennenzulernen. Freilich außerhalb des Landes. Hauptpartner dieses Unterfangens wurde die Grundschule Neustadt. Zu dem kleinen Kreis gehörten prämierte Schüler der 7. und 8. Klasse und deren Lehrkräfte. Die heranwachsende Generation mit ihren Lehrkräften sollte sich also ein Bild davon machen, was es heißt, als Minderheit zu leben. Es waren aber nicht die Arbeitsmigranten anvisiert, die durch das Zusammenwachsen Europas in vielen Westländern der Europäischen Union leben, sondern die rumänische Minderheit verwurzelt von Geburt an in Ländern fernab der Arbeitsmigration.
Durch solch eine Besuchsreise sollte die Einsicht in die gegenseitige Akzeptanz zwischen Mehrheit und Minderheit in ihrer Vielfalt gefördert werden. Die heranwachsende nächste Generation der Mehrheitsbevölkerung kann auf diese Weise die kulturellen und historischen Werte der Minderheit schätzen und fördern lernen, indem sie die Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer eigenen Minderheit außerhalb der Grenzen Rumäniens vor Augen hat.
Letztes Jahr besuchten wir die rumänische Minderheit in Südbessarabien, heute Ukraine. Ein Höhepunkt war ein Treffen mit Vertretern der rumänischen Minderheitsorganisationen im rumänischen Konsulat von Odessa, unter der Leitung von Konsul Mihai Oprescu. Schüler und Lehrer erhielten einen Einblick in die soziale und gesellschaftliche Lage ihrer „Leute“ jenseits des Pruth und Dnjester.
In diesem Jahr nun machten wir uns erneut auf den Weg mit Schülern und Lehrern der Grundschule Neustadt auf die Spuren der „Aromunen“ auf dem Balkan. Außer dem Besuch dieser Minderheit bot der Balkan auch andere brisante Themen für die heranwachsende Generation: der blutige Jugoslawienkrieg der neunziger Jahre und der „Euro – Islam“. Weitere Ziele dieses Wagnisses richteten sich auf Konfliktbewältigung und Völkerverständigung. Seit geraumer Zeit werden auch in Rumänien Spannungen hochgeschaukelt wegen der Autonomiebestrebungen des Szeklergebietes. In einigen Ländern des Balkans konnten sich die Schüler ein Bild davon machen, was Krieg heißt, wenn solche Konflikte hochkommen.
Erste Station unserer Reise war Skopje, Hauptstadt der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien. Hier gab es die erste Begegnung mit dem „Euro-Islam“. Die Altstadt gleicht einer Stadt aus dem Orient: Moscheen, der Ruf des Muezzin und der Basar. Den wenigsten war bekannt, dass es den „Euro-Islam“ auch in Rumänien, in der Dobrudscha, gibt.
In Ohrid, an einem der ältesten Seen Europas gelegen, gab es die Begegnung mit den Aromunen. Wir lernten den stellvertretenden Direktor der Schule kennen und einen seiner aromunischen Kollegen. Francesca Skarka, die Mutter des aromunischen Lehrers, erzählte uns vieles über Geschichte und Leben der heutigen Aromunen. Auch wenn ihre Sprache über die Jahrhunderte sich anders entwickelt hat, war eine Kommunikation möglich. Sie lieferte uns geschichtliche Angaben über die thrakische Vergangenheit der Aromunen, und betonte, dass sie noch vor den Slawen da waren; aber heute sind sie nur noch eine kleine Minderheit. Auch sprachen wir über das Phänomen der Transhumanz. Schon im Altertum hatten verschiedene Hirtenvölker Privilegien und wanderten mit ihren Herden auf großem Raum: zwischen Spanien und Griechenland und dem Iran am Kaspischen Meer. Das ist noch ein offenes Kapitel der rumänischen Geschichte…
Heute gibt es keine speziellen Bildungseinheiten für die aromunische Bevölkerung, die hauptsächlich im heutigen Mazedonien, Albanien und in Nordgriechenland lebt. Sie hat sich dem Slawischen angepasst. Identität, Sprache und Kultur werden über die Familien vermittelt. Mischehen sind aber schon gang und gäbe. Interessant war zu hören, dass es in Mazedonien mehrere Amtssprachen gibt: Mazedonisch (südslawische Sprache), Serbisch, Albanisch, Türkisch und Aromunisch. In Ortschaften, wo mindestens 20 Prozent der Bevölkerung einer Minderheit angehören, gilt deren Sprache auch als Amtssprache. In Mazedonien leben rund 10.000 Aromunen (ca. 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung).
Von Mazedonien ging es weiter nach Albanien, das Land mit der schwächsten Volkswirtschaft in Europa. Die Betonbunker aus der Zeit des Kalten Krieges, die heute wie mächtige Pilze in der Landschaft ruhen, begrüßten uns wie Torwächter. Die Hauptstadt Tirana erinnert auch heute noch an die kommunistische Vergangenheit unter Diktator Enver Hoxha. Ein orthodoxer Priester erzählte uns in der neugebauten Kathedrale Tiranas, gebaut nach dem Modell der Hagia Sophia, dass es nirgends in Europa ein so striktes Religionsverbot gab, wie in Albanien. Enver Hoxha hat es geschafft, alles Religiöse in seinen Folterkellern zu unterbinden. Nach der Wende waren geradezu 90 Prozent der Bevölkerung nichtreligiös. Heute bekennt sich etwa 40 Prozent der Bevölkerung zum orthodoxen Christentum, die anderen zum Islam. Für alle religiösen Kulte bedeutete das einen schwereren Neuanfang.
Es ging nun weiter in die schönen Adrialandschaften von Montenegro und dem Südkroatischen Zipfel. In Dubrovnik entdeckten wir Gemeinsamkeiten mit unseren siebenbürgischen Städten wie Kronstadt oder Hermannstadt. Nicht nur das mittelalterliche Bild machte das aus, sondern auch die Rolandstatue am Loggia-Platz. Die Statue gilt als Sinnbild für die Stadtrechte. Wenn sich in einer Stadt auf dem Hauptplatz eine Rolandstatue befand, so wusste man, das ist eine freie Markt- und Handelsstadt. Das galt auch für die siebenbürgischen Städte im Mittelalter.
Bis ins Gebiet von Bosnien und Herzegowina durchquerten wir malerische Landschaften. Doch wurde man letztendlich auf bosnischem Gebiet recht schnell wachgerüttelt, nachdem die Spuren des letzten Krieges immer deutlicher wurden. Wenn auf kroatischer Seite in den vergangenen Jahren sehr viel aufgebaut worden ist, so sind die Narben des Krieges in Bosnien noch deutlich sichtbar. Mostar, Sarajewo und Srebrenica waren unsere nächsten Stationen. Vier Jahre lang, von 1991 bis 1995, wütete in diesem Teil des Balkans ein grausamer Krieg. Es wird Generationen brauchen, bis die Wunden dieses Krieges verheilt sind. Auch in dem Stadtbild waren die Narben des Krieges noch immer sichtbar. Ständig kamen wir an zerbombten Häusern vorbei. Die Zeit in Bosnien bot uns die Möglichkeit, ausführlich das Thema Konflikt mit seinen Folgen zu behandeln.
In Sarajewo wurden wir vom rumänischen Botschafter Filip Teodorescu empfangen. Der Botschafter erklärte uns ausführlich die aktuelle Lage der Bosnischen Föderation. Die islamische Bevölkerung passt sich den Werten Europas gut an. Aber Provokationen zwischen den beiden Kulturen, christlich und islamisch, sind immer noch an der Tagesordnung. Es herrscht eine Art „Kalter Krieg“. Die religiösen Gemeinschaften leben in getrennten Vierteln. Mischehen sind Ausnahmen. Auf dem Berg in Mostar, wo einst die Scharfschützen und Mörser lauerten, leuchtet heute ein großes leuchtendes Kreuz. Der Botschafter betonte schließlich, wie wichtig es sei in einer heutigen modernen Gesellschaft den Nationalismus abzuwerten und seinen Horizont für den Raum eines vereinten Europas zu erweitern.
Der Höhepunkt des Grauens wurde aber in Srebrenica erreicht. Hier haben die Truppen von General Ratko Mladic – erst im Jahr 2011 kam er vors Kriegsverbrechertribunal – ein Massaker in der UN Schutzzone von Srebrenica angerichtet. In eine solch schöne Landschaft, in der einst Silber geschürft wurde, hätte man ein Massaker kaum hinein denken können.
In Srebrenica besuchten wir mit unserer Gruppe die Gedenkstätte und den Friedhof der Opfer von Srebrenica. Ein weites Feld von Gräbern breitete sich vor unseren Augen aus. Dieses Mahnmal des Grauens wird unseren Lehrern und Schülern sicher in Erinnerung bleiben, aber auch das Gespräch mit einer etwas älteren Muslimin, die auf dem Friedhof verweilte und um Angehörige trauerte.
Auch wenn dieser Besuch die reiselustige Stimmung der Reiseteilnehmer auf der Heimfahrt um einiges gedämpft hatte, war es dennoch ein pädagogisch wertvolles Erlebnis. Einerseits wurden uns die Augen geöffnet, andererseits lernten wir einsehen, wie sehr man ein friedliches Einvernehmen heute schätzen sollte. Wir lernten, wie wichtig die Verständigung unter den Völkern ist, vor allem wenn man auf engstem Raum mit unterschiedlichen Nachbarn lebt, die alle mit ihrer Eigenart eine eigenartige Kultur mit sich bringen.
Als Schlusswort nehme ich ein Ausspruch aus der Bergpredigt (Math. 5,9): „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Das heißt, in der Welt gibt es keinen Frieden, der Friede muss in die Welt gestiftet werden.