„Heimat bezieht sich immer nur auf einen kleinen Aspekt, das kann der Friedhof oder der Lindenbaum im Dorf sein. Heimat kann man aber nicht orten.“ Das hat der aus dem Banat stammende Schriftsteller Johann Lippet ( geb. 1951) der BANATER ZEITUNG / Temeswar erzählt. Es war im Herbst 2008. Da war sein Roman „Mahljahre“ bereits vier Jahre alt (Verlag InterGraf Reschitza) und sogar die zweite Fassung, unter dem Titel „Migrant auf Lebzeiten“, war schon da oder gerade im Erscheinen begriffen, beim Ludwigsburger Pop-Verlag.
Ein Buch, zwei Verlage in zwei Ländern, eine Sprache und eine Botschaft, die obige Aussage im ersten Satz eindrucksvoll bestätigt und am zweiten Zweifel zulässt. Vielleicht passt die Geschichte dieses Buches (nicht seines Inhalts) zu einer anderen Aussage des Schriftstellers im erwähnten Interview: „In Deutschland ist die banatdeutsche Literatur ein Insider-Problem.“ Klar, daher hatte dieses Buch nur eine Chance, in Deutschland überhaupt wahrgenommen zu werden, und zwar wenn es auch in einem deutschen Verlag mit Insider-Image erscheinen konnte.
Welches Ausmaß diese Wahrnehmung angenommen hat und in welchen Verkaufszahlen sich das ausdrückt, weiß nur der Verlag; der Leser bleibt mit seinen Erkenntnissen und offenen Fragen zu Autor und Buch. Wieso also „kann man Heimat nicht orten“, wo doch der Autor genau das tut, und zwar in eben diesem Roman Migrant auf Lebzeiten? Die geografische Heimat mag zwar keiner Neuorientierung bedürfen, die biografische aber umso häufiger, zumal man sich als lebenslänglicher Migrant fühlt.
Und schon bietet sich die zweite Frage an: Ist das überhaupt ein Roman? Wer in Deutschland die Szene der aus Rumänien ausgewanderten Autoren einigermaßen kennt – man sollte die Bezeichnung „rumäniendeutsch“ allein den in Rumänien deutsch schreibenden Autoren zugestehen –, der wird von vielen der in diesem Buch angedeuteten oder etwas ausführlicher geschilderten Vorfällen schon mal gelesen oder gehört haben. Also würde ich eher von einem Reportagenroman – nein, nicht Kolportageroman – sprechen.
Da fährt ein gewisser Johann Linz zurück in seine Vergangenheit.
Nach Wiseschdia /Visejdia im Banat. Und nach Temeswar. Und nach Alexanderhausen. Dieser Mann ist eindeutig identifizierbar als Johann Lippets Alter Ego. Und er steckt in einer, ja, nennen wir es mal Midlifecrisis. Ein alter Junge, der von Zuhause ausgebückst ist, um fast 2000 Kilometer in südöstlicher Richtung zu fahren, und dann feststellen muss, dass Erinnerung und Realität nun mal zwei Paar Schuhe sind.
Romanhaft ist in diesem Buch so gut wie nichts. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass dieser Migrant auf Lebzeiten, wie übrigens alle Personen, denen er auf dieser Reise und in seinen Erinnerungen begegnet, nichts Fiktives an sich hat. Das gilt auch für die Orte und die von immer wiederkehrenden Rückblenden unterbrochenen Handlungsstränge. Es sind und bleiben Reportagen, zum Teil hervorragende, besonders für Leser, die das Flimmern der Luft über der erhitzten Banater Heide mehr oder weniger intensiv erlebt haben.
Diese Insider-Bücher haben die Gabe, den Insider-Leser emotional am Geschehen teilhaben zu lassen und ihm das Gefühl zu vermitteln, in irgendeiner Weise selbst angesprochen zu sein. Das geht schon mit der Fahrt im Reisebus los. Es hat nämlich nicht nur Johann Linz interessiert, „woher sich Jakob und Hans kannten, denn Jahrmarkt und Johannisfeld lagen weit voneinander entfernt“. Auch ich habe mein Lesen sofort unterbrochen und meine Frau gefragt, welche Jahrmarkter denn im Raum Heidelberg leben.
Dort hat die Banatreise im Roman ihren Anfang und Hans & Anna sowie Jakob & Kathie unterhalten sich gut verständlich auch für ihre Sitznachbarschaft: „Mer kann sich jo in Temeschvar treffe, wenn ihr vun Johrmark rinnkummt.“
Also kann man Heimat doch orten, selbst wenn das nur eine Geistesübung bleibt. Wer sich aber die Mühe macht, die verortete Heimat nicht nur mit der Seele, sondern auch mit dem Leib wiederzufinden, der kann durchaus wie unser Johann Linz, alias Johann Lippet, geheilt die Rückreise in die andere, also jetzige, Heimat anvisieren. „Alles, worüber man erzählte, war im Grunde genommen vergangen, vorbei. Über schmerzhaft Erlebtes und Erfahrenes konnte man erzählen, weil es überstanden war. Er hatte das untrügliche Gefühl, darüber schreiben zu können, und es hatte keine Eile. Nur die Rückkehr zu Agnes duldete keinen Aufschub. Sie war der einzige feste Bezugspunkt, zu dem es noch ein Zurück gab. Der Eingebung bedingungslos folgen: Morgen wird nach Hause gefahren!“
Na hoffentlich wurde wieder alles gut. Unsere Insider-Autoren werden ja nicht mehr. Und das eine und andere Mal wollen wir Insider-Leser schon noch in die Welt (auch) unserer Erinnerungen mitgenommen werden. Wir würden „unseren“ Schriftstellern auch in andere Gefilde folgen. Das wäre das Mindeste an Literaturtreue. Aber diese südöstlichen Landstriche sind längst zu einem literarischen Markenzeichen geworden. Wer von dort unten kommt, muss anscheinend über dort unten schreiben. Auch Johann Lippet bleibt sich treu.