„Will jemand von euch Schriftsteller werden?“ Auf diese Frage, die der Historiker Thomas Şindilariu an eine Gruppe von etwa 100 Schülerinnen und Schülern des Honterus-Lyzeums richtete, gab es keine Antwort. Niemand hob die Hand. Entweder ist der werdende Schriftsteller zu schüchtern, um sein Geheimnis preiszugeben, oder wünscht sich wirklich niemand, durch Schreiben berühmt zu werden. Doch diesen Entschluss kann man auch später fassen. Bis dahin hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, eine Schriftstellerin in Fleisch und Blut vor sich zu haben. Und zwar die erste Stadtschreiberin Kronstadts.
Von Mai bis Oktober war die deutsche Autorin Paula Schneider in der Stadt unter der Zinne zu Gast. In einem Online-Tagebuch hat sie ihre Eindrücke in Wort und Bild festgehalten. Anfang Oktober ging der fünfmonatige Aufenthalt der Schriftstellerin zu Ende. Paula Schneider verabschiedete sich am Montag, dem 2. Oktober, mit einer Lesung im Johannes-Honterus-Lyzeum. Dabei hatten die Schüler die Gelegenheit eines Einblicks in den Alltag einer Schriftstellerin. Nach den Bergüßungsworten von Gabriela Adam, Fachschulinspektorin für deutsche Sprache innerhalb des Kronstädter Kreisschulamtes, Thomas Şindilariu, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen im Kreis Kronstadt und Winfried Smaczny, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Kulturforums östliches Europa stellte Paula Schneider den Schülerinnen und Schülern der 9. bis 12. Klasse sich und ihren Blog vor. Eine Stadtschreiberin zu haben war für Kronstadt eine einmalige Gelegenheit.
Eine vom Deutschen Kulturforum östliches Europa berufene Jury entschied sich im Januar für die bereits mehrfach ausgezeichnete Autorin.Als Wanderstipendium konzipiert, findet das Stadtschreiber-Projekt jedes Jahr in einer anderen Ortschaft statt – üblicherweise nur in europäischen Kulturhauptstädten. Doch anlässlich des Reformationsjubiläums, das in diesem Jahr gefeiert wird, und der Tatsache, dass sich die Reformation im südosteuropäischen Raum von Kronstadt aus verbreitet hat, entschieden sich die Veranstalter für die Stadt unter der Zinne. Die Aufgabe von Paula Schneider war, sich in ihrem Blog mit dem historischen Kulturerbe Kronstadts und der Region literarisch auseinanderzusetzen, über spannende Begegnungen und Erlebnisse zu berichten, Sehenswertes zu zeigen und Kontakte zu knüpfen. Aus ihrer Perspektive wurde die Geschichte und Gegenwart einer quirligen, multiethnischen Stadt beleuchtet. Oft fällt Fremden viel mehr auf als den Bewohnern einer Stadt- das konnte auch Paula Schneider in den fünf Monaten Aufenthalt beweisen.
Sie las aus ihren poetischen Blogeinträgen- dazu wurden Fotografien, die sie während ihrer Spaziergänge durch Kronstadt gemacht hat, projiziert. Dabei konnten die Jugendlichen sehen, wie eine Schriftstellerin das Leben in Kronstadt betrachtet und es durch die literarische Brille zu etwas Besonderem macht. Es ging um Gewitterhunde, Wolkenschafe und einem Briefkasten, auf dem der Name „Godot“ geschrieben steht.
Im Anschluss dazu hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, einen Teil eines Radiofeatures über den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls in Berlin, zu hören. An den Tag kann sich die Schriftstellerin genau erinnern – es war ihr 13. Geburtstag, der letzte Kindergeburtstag, den sie gefeiert hat. Im Feature geht es um den ehemaligen Grenz-übergang auf der Bornholmer Straße, der am Tag des Mauerfalls als erster Grenzübergang für DDR-Bürger geöffnet wurde, um einen Lampionumzug von 12 Mädchen, um Paulas Poesiealbum, in dem westliche Aufkleber klebten. Am Ende fragte die Schiftstellerin die Jugendlichen, ob sie vielleicht ein paar Worte über die Revolution 1989 in Rumänien sagen könnten. Niemand meldete sich – vielleicht waren sie zu eingeschüchtert von der Begegnung mit einer „richtigen“ Schriftstellerin.
Der Blog, in dem Paula Schneider ihre Eindrücke aus Kronstadt schildert, ist unter folgender Adresse abrufbar: http://stadtschreiberin-kronstadt. blogspot.ro.