Wer bis Ende August hinter der Graft spazieren geht, wird von Weitem eine Art UFO ohne Lichter sehen, das an einem Baum hängt. Nähert man sich, sieht das merkwürdige Objekt aus wie ein bizarrer Bienenstock. Steht man direkt davor, sieht man fünf Kugeln aus Erde, die alle mit einer Öffnung versehen sind. Wenn man neugierig ist, steckt man den Kopf in die Öffnung einer Kugel. Man wird in eine andere Welt eintauchen. Nur mit dem Kopf, der Rest des Körpers bleibt draußen.
Bei den „Kugeln“ handelt es sich um ein Eisengestell, das mit Rollrasen ausgekleidet wurde, so dass innen ein Hohlraum entstanden ist. Die Installation besteht aus fünf Kugeln, also können höchstens fünf Menschen gleichzeitig ihren Kopf hinein stecken. Sie sind perfekt schalldicht, kein Laut dringt nach draußen. „Drinnen“ kann man private Gespräche führen, einen Heiratsantrag machen, Trompete spielen, fremde Gesichter anschauen, Leute kennenlernen oder einfach den Geruch von frischem Gras und Erde einatmen, sich für ein paar Minuten vom Alltagsstress erholen oder einfach nur glücklich sein.
„5er-Garten“ heißt die Installation des Nürnberger Künstlers Thomas May. Sie wurde zusammen mit mehreren Werken von internationalen Künstlern ausgestellt, die in der Zeitspanne 1.-10. August im Rahmen eines Residenzprogrammes geschaffen wurden. Die Künstler haben in dieser Zeit zusammen mit rumänischen Kollegen in der Graft-Bastei gearbeitet. Bei ihren Werken handelt es sich um Malereien, Sound- und Videoinstallationen, Monotypien und Fotocollagen. Die Residenzen für zeitgenössische Kunst (RAC) werden vom Deutschen Kulturzentrum Kronstadt in Zusammenarbeit mit dem Kulturzentrum Redoute und dem Historischen Museum Kronstadt organisiert. Das Thema in diesem Jahr war der Außenraum.
Riesengroße Grashalm-Sammlung
Am Tag vor der Vernissage regnet es in Strömen. Thomas May wartet in der Graft-Bastei, dass der Regen aufhört. Er hat noch ein paar letzte Dinge zu erledigen, dann ist die Installation fertig. Bis dahin schaut er ein paar Besuchern zu, die einen Grashalm schnitzen. Was könnten ein chinesischer Metzger, ein rumänisches Brautpaar, ein polnischer Ingenieur, eine finnische Hausfrau und ein deutscher Schauspieler gemeinsam haben? Vielleicht eine riesige Ausstellung mit Holz- Grashalmen, die sie selbst geschnitzt haben. Dazu überzeugt hat sie alle niemand anders als Thomas May. Der Künstler hat das Projekt im Jahr 2000 gestartet, bis heute haben über 17.400 Menschen auf der ganzen Welt Grashalme aus einem Stück Balsaholz geschnitzt. Täglich steigt die Zahl. Die Grashalme werden anschließend grün gefärbt, dann wird jeder Halm nummeriert und mit dem Vornamen, dem 1. Buchstaben des Nachnamens sowie mit der Berufsbezeichnung des Schnitzers katalogisiert. Dann kommt der Halm in die Sammung von Thomas May und die Schnitzer können stolz sein: sie haben zu einem riesengroßen kollektiven Kunstwerk beigetragen. Schnitztouren brachten Thomas May nach Finnland, Schweden, Tschechien, Makedonien, Italien, Polen, Südkorea, China, Österreich, Ukraine, Japan und Israel.
„Natur hat mich schon immer interessiert. Ich hatte die Idee einer Installation, in der ich von verschiedenen Leuten geschnitzte Grashalme präsentiere. Die erste habe ich in Nürnberg vorgestellt, dann in Polen und Japan. Ich habe angefangen, mit den Leuten zu sprechen, und dabei hochinteressante Fakten über Gras erfahren. Fast jeder kennt eine Geschichte über Gras- vielleicht über den Rasen auf dem Fußballstadion. Oder über jemanden, der einen Grashalm als Musikinstrument benutzt. Es gibt über 3000 Sorten von Gras auf der Welt. 80% davon essen wir, also wird es Teil von uns. Walt Whitman erklärt in seinem Buch „Grashalme“ die Demokratie anhand von Gras. Das Gras kann wandeln, es kann sich fortbewegen. Grassamen werden in den Schuhen der Wanderer weitertransportiert und kommen in alle mögliche Ecken der Welt. Gras kommt in unzähligen Gedichten und anderen literarischen Werken vor“, meint der Künstler. Gras ist die Lebensgrundlage vieler Tiere. Man kann es nicht wachsen sehen, doch plötzlich ist es über Nacht da. Die meisten Menschen lieben seinen Geruch.
Oder sie mögen barfuss über eine Grasfläche laufen. Es gibt auch viele Redewendungen mit dem Wort „Gras“. Wie etwa „dem Gras beim Wachsen zusehen“, „das Gras wachsen hören“, „warten, bis Gras darüber gewachsen ist“ oder „ins Gras beißen“. Aus dem „GrashalmProjekt“ von May hat sich im Jahr 2004 das GrashalmInstitut entwickelt, dass sich mit der kulturellen Bedeutung von Gras künstlerisch auseinandersetzt. Das Institut untersucht Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Halm, dokumentiert sie und arbeitet sie mit Interventionen, Vorträgen, Workshops, Feldversuchen und Installationen heraus. Zum Beispiel gab es vor einigen Jahren ein Projekt, in dem Probanden während dreier Tage die Möglichkeit hatten, mit einem Hörrohr die Geräusche der unterschiedlich wachsenden Wiesen wahrzunehmen und für das Institut zu beschreiben.
„Kann nur mit dem Kopf besucht werden“
Für Kronstadt hat Thomas May beschlossen, einen „5er Garten“ zu bauen. „Es ist ein hängender Garten, der nur mit dem Kopf besucht werden kann“, meint May über sein Werk. Während die Aussenseite des Objekts zu Beginn nur aus Erde besteht, wächst im Inneren Gras. Maximal fünf Personen können über Öffnungen ihre Köpfe hinein stecken. Vor seiner Anreise nach Kronstadt hatte May eine Materialliste angefertigt. Die Organisatoren haben die nötigen Materialien gekauft und haben Rollrasen bestellt. In Kronstadt angekommen, konnte der Nürnberger schon mit der Arbeit beginnen. Dafür hat man ihm eine kleine Werkstatt in einem Hof in unmittelbarer Nähe der Graft-Bastei zur Verfügung gestellt. Beim Arbeiten war er nie allein. Die Nachbarn waren sehr neugierig über sein Werk. Danach brachte er die Installation an einem Baum unter der Graft an. „Ich fand es interessant, dass so viele Passanten stehen geblieben sind und mich über die Installation gefragt haben. In Rumänien hat man mehr Zeit. Das heißt, man nimmt sich mehr Zeit, und das finde ich sehr schön“, meint May, der während seiner Arbeit den Rasen in ein Eisengerüst hineingenäht hat.
Der „5-er Garten“ war in allen Ländern, in denen er ausgestellt wurde, ein Erfolg. „Es kann spannend sein, ein paar Minuten mit wildfremden Leuten in einem privaten Garten zu verbringen. Man kann nie wissen, was für Gespräche sich dabei entwickeln können. Man sieht nur die Köpfe- also keine Gestik, nur Mimik. Und die Gesichter sieht man im Gegenlicht. Man trifft sich sozusagen frei vom Körper. Wenn du allein bist und den Kopf hineinsteckst, wird in höchstens 5 Minuten jemand kommen. Es können interessante Sachen passieren. In Korea hat jemand Flöte drinnen gespielt, von draußen konnte man nichts hören. “, meint May.
Für den urbanen Menschen
Der 5-er Garten ist für den urbanen Menschen gedacht. Sein Alltag besteht aus Kaffee im Pappbecher, Sitzungen, vielen Stunden vor verschiedenen Bildschirmen, Verkehrsstau und Smartphone. Steckt er den Kopf in eine Graskugel, kann er für ein paar Minuten untertauchen und sich erholen. „Man kann sich hier erholen und meditieren. Im Garten wird eine intime Atmosphäre geschaffen. Er ist wie ein kleines Paradies mitten in der Stadt“. Eine andere Idee des Künstlers ist ein kleinerer Garten für eine einzige Person. „Das wäre dann ein mobiler Garten zum Mitnehmen. Wenn man Lust hat, stülpt man ihn sich einfach auf den Kopf. Man kann ihn auf der Straße tragen oder im Büro, zum Erfrischen“.
Bis zum 31. August wartet der „5-er Garten“ auf neugierige Besucher. Danach reist die Installation weiter nach Fribourg in der Schweiz und nach Nürnberg. Thomas May reist auch weiter, um Grashalme von Menschen aus aller Welt einzusammeln. Und neue Arten von Gras zu entdecken. Denn Gras kann sehr verschieden sein. „Das Gras in Südkorea ist härter, fester und wird braun. Die Grashalme in Israel sind mit Luftwurzeln miteinander verbunden“. Das Schöne am „5er Garten“ ist, dass er sich permanent verändert. „Es ist ein Werk, das lebendig ist. Also verändert es langsam sein Aussehen. In einem Vierteljahr sieht es anders aus als jetzt, in einem halben Jahr wieder anders. Es hat immer das Vergängliche dabei. Natur ist lebendig, sie verändert sich permanent. Das ist faszinierend“. Mehr Informationen über Thomas May und seine Werke unter http://grashalminstitut.de/.