Vielleicht kennen einige Kronstädter, die sich noch nicht zu einer Besichtigung der Synagoge in ihrer Mitte entschließen konnten, dieses Gefühl: Man geht die Waisenhausgasse/Str. Poarta Schei entlang und schaut interessiert zu den Gebäuden der jüdischen Gemeinde hinüber. Die dortige Synagoge ist hübsch renoviert, und vor dem rosé-weißen Prachtbau sind mal kleinere Menschengrüppchen, mal besondere Aufbauten zu erspähen – wie etwa zum Chanukka-Fest ein neunarmiger Leuchter, dessen Birnen sich per neumodisch-elektrischem Schalter Tag für Tag einzeln anschalten lassen.
Manchmal steht das Eisentor am Eingang offen, an anderen Tagen aber ist es geschlossen. Sind denn hier interessierte Besucher überhaupt erwünscht – oder betritt man einen Bereich der Privatsphäre und stört womöglich die vielen Kronstädtern unbekannte Gemeinde in ihrem Leben und Glauben? „Natürlich nicht! Wir sind eine offene Gemeinde. Jeder, der sich für unsere Kultur interessiert, ist herzlich willkommen“, beantwortet Tiberiu Roth, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Kronstadt, diese Frage lächelnd. Wer sich ein Herz fasst und spontan durch das Tor geht – oder vorher telefonisch einen Termin für die Besichtigung der Synagoge vereinbart – wird es selber feststellen: Die Gastfreundschaft der jüdischen Gemeinde ist groß. Und ein Ausflug in diese „nahe Fremde“, die so zentral im Herzen Kronstadts liegt und Teil seiner Geschichte ist, verspricht spannende neue Einsichten und interessante Stunden.
Vom Ingenieur zum Vorbeter
Eines der Gemeindemitglieder, die man dort häufig antreffen kann, ist der gebürtig aus Czernowitz stammende Vorbeter Rudi Katz. Heute leitet der agile 84-Jährige die Gebete für die gemeinsamen Gottesdienste an. Eine so aktive Rolle in der Gemeinde war ihm zuvor jahrzehntelang verwehrt geblieben, da sich eine offene Ausübung des Glaubens mit seiner Stellung als Ingenieur in einer kommunistischen Fabrik nicht vereinbaren ließ. Nach seiner Deportation nach Transnistrien 1943 und der Zwangsarbeit in einem Lager, wo Katz viele Familienmitglieder verlor, hatte er 1946 in Kronstadt ein neues Leben angefangen.
„Während des Kommunismus war es schon möglich, ein Gemeindeleben zu führen – aber halboffiziell“, berichtet er. „Früher wurde jeden Tag Gottesdienst gehalten. Jetzt nur noch samstags und an den großen Feiertagen, denn es wird immer schwieriger, die dafür notwendige Zahl von zehn religiös mündigen Männer über 13 Jahren (‘Minjan’) zusammen zu bekommen.“
Die Auswanderung von Mitgliedern, besonders nach Israel, hatte zu einem starken Schwund in der Kronstädter Gemeinde geführt. Doch das ist, so Katz, nicht die einzige Schwierigkeit, mit der diese zu kämpfen hat: „Der seelische Anteil an der Religion wird immer kleiner. Nur noch wenige von uns sind wirklich religiöse Menschen.“ Einige Gemeindemitglieder lebten zudem in gemischten Ehen, und besonders Jugendliche täten sich mit der praktischen Umsetzung des Glaubens schwer.
Denn die jüdische Religion stellt ihre Anhänger vor Herausforderungen, für die man einige Einschränkungen des modernen Alltags in Kauf nehmen muss: Ein orthodoxer Jude darf sich nicht rasieren, samstags nicht arbeiten oder Auto fahren, kein Schweinefleisch essen – und überhaupt an Fleisch nur das, was von einem jüdischen Schlachter geschächtet wurde. „Für viele Juden im ungarisch-rumänischen Umfeld war das schon früher unmöglich einzuhalten“, erläutert Katz. „Die Juden hier haben sich rasiert, samstags gearbeitet und das mit dem koscheren Essen so halb und halb durchgezogen… seelisch, sozusagen, waren sie aber noch Juden.
Es gab in Kronstadt zwei Rabbiner: einen in der neologischen und einen in der orthodoxen Gemeinde. Ebenso gab es für jede der Gemeinden einen separaten Friedhof. Heute sind alle jüdischen Gläubigen in der neologischen Gemeinde mit nur einem Rabbiner zusammengefasst und verrichten die Gebete gemeinsam. Schwierig ist es auch mit der Sprache. In Amerika zum Beispiel werden die Gebete sogar ins Englische übersetzt, dort ist man also sehr weit von den Vorgaben des jüdischen Glaubens abgewichen. Bei den Neologen sind die Gebetbücher zweigeteilt. Rechts steht alles auf Hebräisch, und links auf Deutsch oder Ungarisch.“
Eine Kindheit im Schatten nationalsozialistischer Repressionen
Der Vize-Präsident der jüdischen Gemeinde, Valer Plugaru, ist in Kronstadt aufgewachsen und erlebte als Kind die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung. Auch wenn seine persönliche Erinnerung nicht sehr detailliert ist und er das Erlebte aus der Kinderperspektive heraus vorerst nicht kontextualisieren konnte, hat die Zeit der Repressionen auch bei ihm und vielen Vertretern der jüngeren Generationen ihre Spuren hinterlassen. Eginald Schlattner zeichnet in seinem Roman „Der geköpfte Hahn“ folgendes Bild von Kronstadt unter dem Hakenkreuz:
„Die sächsische Innenstadt von Kronstadt, intra muros um die Schwarze Kirche und das barocke Rathaus gelagert, wo bis ins vorige Jahrhundert kein Fremder – Ungar, Rumäne, Armenier oder Jude – das Bürgerrecht erwerben konnte oder ein Haus ankaufen durfte, schien zur Stunde ausschließlich von deutschen Volksgenossen bevölkert zu sein. /…/ In der Geschäftswelt von Kronstadt wusste man genau, was man sich als Deutscher schuldig war und wo der Feind stand: In den Auslagen oder an den Eingangstüren hingen Täfelchen, auf denen in gezierter gotischer Schrift zu lesen war: Juden unerwünscht. Oder unmißverständlich: Hier werden Juden nicht bedient! Gut, dass sie in so vielen Sprachen zu Hause waren und einer so kultivierten Sprache wie dem Deutschen mächtig.“ (S. 191).
Plugaru sieht es trotz dieser unangenehmen Einschränkungen als einen Glücksfall an, dass Kronstadt stets Teil von Rumänien blieb und demnach dort rumänische Gesetze galten. Für die Mitglieder der jüdischen Gemeinde war ein Teil von Berufen verboten: etwa Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer oder Kaufmann. Männer hatten Zwangsarbeit zu leisten, und es galt eine abendliche Ausgangssperre. Immerhin aber wurden die Synagogen der Stadt nicht vollständig zerstört, und es gab aus diesem Teil Rumäniens keine Deportationen – ganz im Gegenteil zum nahe gelegenen Sankt Georgen/Sfântu Gheorghe, wo nur etwa ein Zehntel der Gemeinde die Shoah überlebte.
Warum die Kronstädter Juden von diesem Schicksal verschont blieben, ist bis heute ungeklärt. Es gebe verschiedene Hypothesen, berichtet Katz. Aus Dokumenten gehe hervor, dass die Nazis erheblichen Druck auf die rumänischen Behörden ausgeübt hatten, die Juden zu deportieren. Immerhin hatte das Land ein Bündnis mit dem „Dritten Reich“ geschlossen. Doch die Behörden gaben dem Druck nicht nach, sodass immer mehr Juden aus anderen Teilen des Landes nach Kronstadt flohen und die Gemeinde im Jahre 1947 – sehr im Gegensatz zu vielen anderen, die durch die Vernichtungsaktionen stark dezimiert worden waren – mit 6000 Gläubigen ihre bislang höchste Mitgliederzahl aufwies.
Religiöser Alltag und besondere Feste
Heute wird in der Kronstädter jüdischen Gemeinde traditionell am Sabbat, jeden Samstag also ab 9 Uhr, mit dem Vorbeter gebetet. Ab ca. 9.45 Uhr stimmt die gesamte Gemeinde mit ein. Besucher, die einen solchen Gottesdienst nach jüdischem Brauch miterleben möchten, sind nach Vorabsprache auch hierzu herzlich willkommen. Große Feste wie der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur, Pessach zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, Schawuot, das nach Pessach zweite der Wallfahrtsfeste, und das dritte, das Laubhüttenfest Sukkot, sowie das Lichterfest Chanukkah und Purim nach dem Buch Esther im Alten Testament werden in entsprechend festlichem Rahmen begangen. An diesen Tagen ist die Synagoge besonders gut gefüllt, und oft sind auch jüdische Gäste aus Israel, die extra dafür anreisen, unter den Betenden.
Touristenmagnet Kronstadt
Die Zahl der Touristen aus Israel ist insbesondere im Sommer sehr hoch; dazu kommen Besucher aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Europa. „In Kronstadt sind die meisten Touristen aus Deutschland, die zweitgrößte Gruppe ist aus Israel, und dann kommt erst einmal lange nichts“, schmunzelt Präsident Roth. Die Gründe dafür sind seiner Meinung nach, dass sich viele jüdische Auswanderer der 2. und 3. Generation für ihre rumänischen Wurzeln interessieren. Außerdem liefen viele Kontakte auch über die ca. 200.000 rumänischen Arbeitskräfte dort.
In Kronstadt selbst sind vor allem die Kontakte zur deutschen Gemeinde gut: Als die Renovierung der Synagoge 2001 fertig gestellt werden sollte, wurde zur gleichen Zeit die 50-jährige Renovierungsarbeit an der Schwarzen Kirche abgeschlossen – und so half man der jüdischen Gemeinde bei ihren Arbeiten ein wenig aus. Auch gibt es im Winter, wenn die internationalen Touristen ausbleiben, für das dortige Restaurant nicht viel zu tun. Zwar wird täglich koscheres „Essen auf Rädern“ für die älteren der 210 Gemeindemitglieder ausgeliefert, doch es sei eine wichtige Unterstützung für beide Seiten, dass auch für die Kinder der deutschen Honterus-Schule gekocht wird, so Roth. „Und wenn im Sommer wieder der Touristen-Ansturm kommt, dann haben die Kinder Ferien…“
(Fortsetzung folgt)