Und wirklich sollte man etwaige Zukunftsängste der Gemeinde kaum für möglich halten, wenn man die fröhlich lärmenden Kinderhorden sieht, die am frühen Nachmittag das Restaurant stürmen. Die daran anschließende After School-Betreuung ist sehr wichtig für diejenigen Eltern, die länger arbeiten, als die Kinder regulär in der Schule wären. Im koscheren Restaurant bekommen sie ihr Mittagessen, und man achtet sehr darauf, dass dieses eine gute Qualität hat. Gelernt werden danach allerdings nicht etwa Fakten zur Kultur der jüdischen Gemeinde, sondern eben die Fächer, die gerade regulär in der Schule behandelt werden. Wie schon seit Jahrhunderten, scheinen die Minderheiten in Kronstadt auch heute noch eher nebeneinander als in einem wirklich aktiven Miteinander zu existieren.
Und wie steht es um die Zukunft der jüdischen Gemeinde? Rudi Katz seufzt. „Optimistisch kann man nicht sein. Es ist fast unmöglich, eine jüdische Gemeinde aufzubauen, so wie ich sie mir vorstelle – wo der jüdische Glaube zumindest 20 Prozent des täglichen Tuns ausmacht. Aber ein modernisierter Judaismus wird doch angenommen. Dafür kämpft man hier. Dafür, dass die Jugend zumindest die wichtigsten Überzeugungen des jüdischen Glaubens kennt. Ein Rabbiner kommt zwei Mal im Monat her und gibt Stunden in Hebräisch und Judaismus. Doch der religiöse Anteil wird immer schwächer, und es gibt nur noch wenige, die Hebräisch können. Vieles wird heute ins Rumänische übersetzt. Man versucht eben, junge Menschen näher an den Glauben heranzuführen. Es ist ein Anfang! Wie weit es gelingt, wissen wir nicht.“
Auch Valer Plugaru teilt diese Einschätzung und unterstreicht die Wichtigkeit dessen, gerade junge Gemeindemitglieder stärker einzubeziehen: „Wir hoffen, dass es gut weitergeht mit der Gemeinde. Heute sind es nur noch wenige, ältere Leute, die wirklich an die Religion gebunden sind. Man muss alles tun, um das, was noch übrig ist, zu retten und den jungen Leuten näher zu bringen.“ Katz nickt zustimmend und ergänzt: „Meine Hoffnung ist ja, dass wenigstens Teile der Gesetze, des Glaubens und der Praktiken – zum Beispiel die gemeinsame Verrichtung der Gebete in der Synagoge, was für den jüdischen Glauben essenziell ist – erhalten bleiben.“
Ambivalente Beziehungen
Mich interessiert vor allem, wie sich die Beziehung der Juden gegenüber Deutschen und Rumänen nach dem Krieg gestaltete. Rudi Katz´ Reaktion überrascht mich, denn er antwortet sofort und ohne zu überlegen: „Es gab keine besonderen Beziehungen zu den Deutschen. Weder im negativen noch im positiven Sinne. Mit den Rumänen war es ähnlich. Ich als Jude habe den größten Teil meines Lebens zwischen Rumänen, Ungarn und Deutschen verbracht und nie in einem Stadtteil gelebt, wo vor allem Juden waren.“
Aber hat er denn persönlich keinerlei schlechte Gefühle gegenüber den Deutschen? Nachdem er im Lager so viele Familienmitglieder verloren hat? „Nein, nein“, wiegelt Katz ab. „Meine ganze Kultur ist ja deutsch. Ich sehe das als eine historische Tatsache an; gelenkt von ganz besonderen Umständen, die damals bestanden haben. Das sollte man auf keiner persönlichen Ebene betrachten. Das eine geschieht auf staatlichem Niveau, das andere sind Beziehungen zwischen Mensch und Mensch. Das darf man, glaube ich, nicht mischen.“ Hier meldet sich auch Plugaru wieder zu Wort. „Was interessant ist: Nach dem Krieg hat sich die faschistische Ideologie sofort aufgelöst. Die Leute haben einfach so zusammengelebt. Diese Region hier ist ein Teil des Landes, in dem immer mehrere Völker gelebt haben. Sachsen, Ungarn und Rumänen. Der Faschismus ist genauso schnell wieder gegangen, wie er gekommen war. Ich glaube, das war auch in Deutschland so.“
Für mich ist das schwer vorstellbar. All diese Volksgruppen leben friedlich zusammen – dann kommt der Nationalsozialismus mit Deportationen, Massenmord oder zumindest Repressionen – und danach leben wieder alle friedlich zusammen, als sei nichts gewesen? „Wissen Sie, das ist schon ein psychologisches Problem. Wie viele von den Menschen, die sich hier an den Faschismus gebunden haben, waren denn auch wirklich Faschisten? An unserer Synagoge wurde ja auch einiges zerstört. Das waren Menschen aus dieser Stadt – sie sind ja nicht vom Himmel gefallen. Doch das Ganze war wie so eine Art Gewitter.“ Auf die Frage nach der heutigen Situation ergänzt er: „Offiziell gibt es in Rumänien keinen Antisemitismus, aber es gibt halb-faschistische Organisationen. Die bemühen sich zwar, keine offiziellen Aussagen in diese Richtung zu machen. Aber man weiß doch, was dahinter steht. In Ungarn ist es anders: Dort sitzt jetzt im Parlament eine Fraktion, die fast offen faschistische Ideen propagiert. In Rumänien ist das nicht so. Nationalismus aber gibt es schon.“
Kronstadts vielleicht versteckteste Sehenswürdigkeit
Zum Abschluss machen wir einen ungewöhnlichen Ausflug an einen stillen, man ist fast versucht zu sagen: verwunschenen Ort. Denn in einem Hinterhof der Burggasse/Str. Castelului, den man nur betreten kann, wenn einer der Bewohner die Außentür öffnet, liegt gut versteckt die zweite Kronstädter Synagoge. Ihre kunstvoll verzierte Fassade ist von einer Art, wie man sie an kaum einem anderen Gebetshaus in Rumänien findet. Seit 1989 ist sie nicht mehr in Betrieb, und auch ihre weitere Nutzung steht in den Sternen.
Zwar liegt das Gebäude im Herzen der Stadt und ist wegen der guten Lage und seiner Einzigartigkeit von Geschäftsleuten durchaus begehrt. Doch die jüdische Gemeinde vor Ort, wie auch die Union der jüdischen Gemeinschaft in Rumänien, möchte keine unangemessene Nutzung der Synagoge zulassen. „Man könnte sie an eine Musikschule geben, das stand einmal zur Diskussion. Doch eine Renovierung des Gebäudes bedeutet fast einen Umbau und erfordert sehr viel Geld, denn verkaufen will man es nicht. Es gab ein Kaufangebot, um dort ein Restaurant einzurichten, doch damit war niemand einverstanden. Bisher hat man keine annehmbare Lösung gefunden, und so wird der Zustand der Synagoge immer schlechter. Viel schlechter als annehmbar“, erläutert Katz mit einem halb bewundernden, halb traurigen Blick hinüber zu der beeindruckenden, bunt verzierten Fassade.
Bei meinem ersten Besuch der Gemeinde am Sabbat hatte ich gefragt, ob ich Porträtfotos meiner Interviewpartner machen darf. Doch das Fotografieren an Samstagen ist nach den strengen Geboten des jüdischen Glaubens eigentlich untersagt: „Also, theoretisch ist es nicht erlaubt. Aber, na ja, sagen wir…“ begann Katz, wie gewohnt in ausgesuchter Höflichkeit und bemüht um sorgsam abgewogene Formulierungen. Ich winkte ab. Er hatte ja selbst betont, dass man alle Facetten des Glaubens, die im Alltag noch umgesetzt werden können, ehren und erhalten solle. Heute aber ist Montag, und ich darf auf den Auslöser drücken. Rudi Katz´ lebendige Augen leuchten trotz des bedeckten Himmels mit der Fassade hinter ihm um die Wette. Mit einem Klick ist die Gegenwart schon Vergangenheit. Und gleichzeitig ist ein Stück Kronstädter Vergangenheit trotz aller Zukunftsängste sehr präsent.
Durch das Tor – hereinspaziert in einen jüdischen Mikrokosmos
Was also können Besucher vor Ort erleben? Ganz besonders legt Präsident Roth Interessierten eine kleine, sehr emotionale und beeindruckende Ausstellung in der Synagoge ans Herz: Arbeiten nicht-jüdischer Studierender aus Kronstadt darüber, wie sie sich die Shoah vorstellen. Im Anschluss an eine Besichtigung des Gotteshauses bietet es sich an, seine Eindrücke im gegenüberliegenden Restaurant bei einer Kostprobe der traditionellen jüdischen Küche Revue passieren zu lassen. Die Synagoge befindet sich in der Waisenhausgasse/Str. Poarta Schei 27. Unter der Nummer (+4) 0744 31 77 38 kann man sich für eine Besichtigung anmelden; der Eintritt kostet 5 Lei.
(Schluss)