Weihnachten ist die Erscheinung der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Ich möchte die Botschaft übersetzen in die Bildersprache einer Legende, der Legende von Christophorus, dem Christusträger.
Christophorus hatte lange vergeblich nach Gott gesucht. Ein Fährmann hatte ihm den Rat gegeben, am Fluss zu bleiben und die Menschen durch die Furt zu tragen. So nahm Christophorus einen großen Stab in seine starke Hand, darauf stützte er sich im Wasser; und so trug er die Menschen alle hinüber.
Als er einst in seiner Hütte ruhte, hörte er, wie eine Kinderstimme rief: „Christophorus, komm heraus und setz mich über.“ Er stand auf und lief hinaus, konnte aber niemanden finden; also ging er wieder in seine Hütte. Da hörte er die Stimme abermals. Er ging wieder hinaus und fand niemanden. Danach hörte er die Stimme zum dritten Mal, und als er hinausging, fand er ein Kind am Ufer, das bat ihn gar sehr, es hinüberzutragen.
Als aber erschien die Freundlichkeit und die Menschenliebe Gottes unseres Heilands, da erschien sie in einem Kind. Das Kind am Ufer ist eine unscheinbare Erscheinung. Dreimal muss es rufen, ehe Christophorus es sieht. Und dann bittet es „gar sehr“ um die Hilfe des kräftigen Mannes.
Ein Kind, das uns vertrauend die Arme entgegen breitet, das sich angewiesen macht auf unsere Liebe, damit es uns die seine schenken kann.
Das Kind spricht Christophorus auf seine stärkste Seite an - er ist ja ein tüchtiger, kräftiger Träger.
Christophorus nahm das Kind auf seine Schulter, ergriff seinen Stab und ging in das Wasser. Aber siehe da: das Wasser wuchs höher und höher, und das Kind wurde so schwer wie Blei. Je weiter er kam, desto höher stieg das Wasser und umso schwerer wurde ihm das Kind auf seinen Schultern, so dass er in große Angst kam und fürchtete, er müsste ertrinken. Und als er mit großer Mühe durch den Fluss geschritten war, setzte er das Kind nieder und sprach: „Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich die ganze Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.“ Das Kind antwortete: „Das soll dich nicht wundern, Christophorus; du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der sie geschaffen hat.“
Christophorus geht also los. Je weiter er geht, desto weicher wird er in den Knien, desto mehr kommt er an die Grenzen seiner Kraft. Wie hat das Kind das fertig gebracht - dieses kleine, schwache, verletzliche Wesen?
Das erinnert mich daran, wie Weihnachten es doch immer wieder schafft, auch in dem härtesten Menschen eine weiche Seite anzurühren. Das wehrlose Kind übt eine Wirkung aus, der sich kaum jemand entziehen kann. Vielleicht wird Weihnachten deshalb oft gefürchtet. Probleme, die man schon unter den Füßen zu haben glaubte, mit denen man halbwegs zurechtkam, werden zu Weihnachten manchmal unerträglich schwer. Einsamkeit, Verlust des Partners oder eines geliebten Menschen, Streit in der Familie, Verletzungen, die Menschen einander zufügen, ja auch die Tatsache, dass kein Friede in der Welt ist - das kann gerade an Weihnachten so niederdrücken, dass jemand denken kann: Ich schaffe es nicht - es schwemmt mich weg.
Christophorus hat beides erfahren: erst hat ihn das Kind auf seine starke Seite angesprochen und ihm etwas zugetraut; dann erlebt er mit dem Kind auf den Schultern seine Gefährdung, seine schwache Seite. Beides ist auch in jedem von uns. Und indem beides angenommen, geliebt wird, werden wir heil. Deshalb höre ich die Christophorus-Legende als Ermutigung, vor den Gefühlen nicht davonzulaufen, die Weihnachten in uns weckt - sondern hineinzugehen, hindurchzugehen.
Und das Kind sprach weiter: „Und damit du siehst, dass ich die Wahrheit rede, so nimm deinen Stab, wenn du wieder hinübergegangen bist, und stecke ihn neben deiner Hütte in die Erde; so wird er des Morgens blühen und Frucht tragen.“
Christophorus ging hin und pflanzte seinen Stab in die Erde; und als er morgens aufstand, trug der Stab Blätter und Früchte.
Christophorus hat wieder Boden unter den Füßen. Auch wir kennen sicher das Gefühl, wenn nach einer schweren Zeit die Lebensgeister in uns wieder erwachen. Das braucht oft etwas Zeit - bei Christophorus eine Nacht.
Weihnachten hat mit Leben zu tun. Das Fest weckt in uns die Sehnsucht nach Leben.
In der Legende von Christophorus wird am Ende sein Stab zum Lebensbaum. Und wer denkt beim Lebensbaum nicht an unsern Weihnachtsbaum, der mit Kerzen und Sternen geschmückt „mitten in der längsten Nacht des Winters steht? Er bringt die Nacht nicht zum Verschwinden, sondern er leuchtet in ihr“.
Neustadt, Dezember 2023