Bei der Gaudeamus-Buchmesse 2016, wie auch bei der zweiten Auflage des Kronstädter „Bookfest“-Salons, war der unlängst im Humanitas-Verlag erschienene Roman „Inocenţii“ (auf deutsch etwa mit „Die Unschuldigen“ oder „Die Unbescholtenen“ zu übersetzen) einer der am besten verkauften Titel. Der dritte Roman von Ioana Pârvulescu wurde auch als Kronstadt-Roman („Romanul Braşovului“) vorgestellt – was bei einem Kronstädter nur zusätzliches Interesse für dieses Buch wecken kann.
Ioana Pârvulescu ist nach 1989 zu einer der bekanntesten rumänischen Schriftstellerinnen geworden, spätestens seit dem sie 2013 für ihren Roman „Viaţa începe vineri“ mit dem Literaturpreis der EU ausgezeichnet wurde. Die gebürtige Kronstädterin, die heute in Bukarest lebt und an der Philologie-Fakultät der Bukarester Uni Vorlesungen über moderne rumänische Literatur hält, zieht es immer wieder in ihre Geburtsstadt. Da, in der Johannisgasse, in einem alten Haus, in Sichtweite der Rückfront des „Aro“-Hotels, hat sie ihre Kindheit verbracht – eine Zeit und eine Welt, die die Schriftstellerin nun ihren Lesern in ihrem neusten Buch schildern will.
Vieles davon hat klare autobiographische Züge, gibt Pârvulescu zu. Ihr Alter Ego im Roman heißt Ana und aus deren Perspektive (als Schülerin in den Grundschulklassen) wird über die Mitbewohner im Haus, gleichzeitig alle zur Großfamilie gehörend, über Kindheitserlebnisse, über schöne Ferien erzählt. Es ist die heile Welt der Kindheit, die Verbundenheit zum zwei Jahre älteren Bruder der im Roman Matei heißt, zu den Cousins Diana und Doru, zu den Eltern und Großeltern, zu Onkel und Tante, zu Großonkel und Großtante. Alle leben unter demselben Dach des alten einstöckigen Hauses – die Kinder zusammen in der Mansarde. So haben diese gleich zwei Reihen von Eltern und sogar von Großeltern, denn die kinderlosen Tanti und Nenea Ionel kümmern sich ebenfalls liebevoll um die vier Enkel von Tantis Schwester, die Großmutter Anas. Insgesamt sind es also zwölf Personen, die der Leser mehr oder weniger ausführlich kennen lernt. Ana ist die jüngste und sie ist stets bestrebt, mit ihrem unternehmungslustigen Bruder, mit der sieben Jahre älteren Cousine und deren um zwei Jahre jüngeren Bruder mitzuhalten. Besonders einprägsam geschildert werden: der wortkarge Großvater, ehemaliger Arzt mit eigenem Kabinett im Haus; die Großmutter, die mit ihren Enkeln einen geheimen „Verein zur Verbesserung der Welt“ gründet; der Großonkel, der stets ein Lächeln bereit hat, obwohl er, nach dem Tod seiner ersten Frau geschworen hatte, niemals zu singen und ständig auf „Ninel“ geärgert ist (von hinten gelesen entpuppt sich der „Bösewicht“); die Großtante – eine ehemalige Erdkundelehrerin, die so Vieles und Interessantes nicht nur über die große Welt, sondern auch über selbst erlebte vergangene Zeiten zu erzählen weiß.
Das Haus selber kommt indirekt zu Wort – es bekommt ein Gesicht, nicht nur in Anas Kinderzeichnung mit Fenster als Augen und Tor als Mund. Es hat seine Geschichte, seine Geheimnisse, die die Kinder zu entdecken versuchen, sogar sein eigenes Gewissen und Schicksal. Es hat die Zeit durchmachen müssen, als die Straße, in der es steht 1950 aus Sf. Ioan (Johannisgasse) in Maiakovski und 1990 wieder in Johannisgasse umgetauft wurde; es hat miterlebt, wie in der ersten Hälfte der 1960-er Jahre seine „Geschwister“ auf der anderen Straßenseite zusammen mit der alten Tanne verschwinden mussten, um Platz für den neuen Flügel des „Aro“-Hotels zu machen. Das Haus steht auch heute noch, nur sind in dem knappen halben Jahrhundert, seitdem Ana da spielte und von da ihren Schulweg antrat, die meisten ihrer Bewohner von damals gestorben oder ausgezogen.
Es sind Erinnerungen und Beschreibungen, eingeflochtene kurze Geschichten über ferne Verwandte wie z.B. der alte Antiquar, den die Kinder liebgewonnen hatten, weil er ihr logisches Denken immer wieder mit besonderen Rätseln auf die Probe stellte; oder Großvaters Bruder aus Rosenau, der den Kindern Heilpflanzen zeigte, das Schwarze Meer vom Butschetsch gesehen hatte und viele weitere Geheimnisse zu erklären hatte. Es sind Erkundungen, die die vier zusammen auf der Zinne unternehmen, um nach dem sagenhaften Tunnel zu graben, der zum Marktplatz führen sollte. Dabei finden sie einen mysteriösen Stein mit sonderbaren Einritzungen … und stoßen auf einen Obdachlosen, der sie in Flucht setzt. Es sind Ausflüge in die Berge, Skifahrten am Schuler, Glitschen hinter der Graft, Baden im Schwimmbad, oben auf der Terrasse des alten Aro-Hotels, wo Anas Großvater väterlicherseits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Direktor war und wo der alte Liftboy sich noch an ihn erinnern konnte.
Ein Roman, der sich vor rund fünf Jahrzehnten in der Kronstädter Inneren Stadt abspielt und nicht auch Kronstädter Sachsen miteinbezieht, wäre lückenhaft und unglaubwürdig. Aber das ist nicht der einzige Grund, der Ioana Pârvulescu wohl bewogen hat, auch die jüngere sächsische Geschichte in ihre Romanwelt aufzunehmen. Die erwachsenen Hausbewohner hielten viel von deutscher Erziehung und von dem Erlernen von Fremdsprachen. Die kleine Ana ist die einzige der vier Kinder, die nach dem deutschen Kindergarten nicht die Honterusschule besuchen kann. Ende der 1960er Jahre wurde durchgesetzt, dass nur jene die ihre deutsche Abstammung nachweisen konnten, ihre Kinder in diese Schule einschreiben durften. In der ganzen Familie gab es zwar Ungarn, ja sogar Armenier und Italiener, aber keinen einsetzbaren Deutschen. In der Hoffnung, dass diese Reglung kurzfristig sei, verbringt Ana ein zusätzliches Kindergartenjahr. Vergeblich – sie muss sich in die rumänische Abteilung der Allgemeinschule Nr. 6 an der Postwiese einschreiben. Über Sachsen und ihre sieben Burgen lernt sie von ihrer Großtante, sie (und die Leser) erfahren über die Russlanddeportation der Sachsen, von der auch ihre Nachbarn aus der Johannisgasse nicht verschont blieben. Ana weiß auch, wofür die Initialen SKV stehen und verbringt schöne Skiferien bei der Vereinshütte, die damals „Post˛varu“ hieß. Die deutsch-sächsische Komponente spielt stark mit in der Welt und der Erziehung von Ana und erklärt indirekt, wieso auch heute die Honterusschule, selbst ohne nennenswerten sächsischen Schüler- oder Lehreranteil, mit Erfolg weiterbestehen kann.
Der Zugang zur deutschen Sprache wurde den Kindern (auch den Mädchen) über die Lektüre der Karl-May-Romane attraktiver gemacht, selbst wenn man sich dafür auch noch die gotische Druckschrift aneignen musste.
„Inocen]ii“ ist ein Roman, der den Leser in eine glückliche Zeit versetzt – in die Kindheit. Man entdeckt die Welt der Erwachsenen mit den Augen eines Mädchens, mit allen Überraschungen, Herausforderungen und Geheimnissen. Nostalgie fehlt dabei nicht, vor allem wenn man jene Zeiten miterlebt hat und die Orte der Handlung bestens kennt. Ioana Pârvulescu kann einen Vorteil der Kindheit ins Erwachsenenalter hinüberretten. Sie erklärt an einer Stelle im Roman, dass Kinder zunächst gern in die Schuhe der „Großen“ hineinschlüpfen und es kaum erwarten, diese tragen zu können. Sie wissen, diese Zeit wird unweigerlich kommen. Genau so gut wissen sie aber auch, dass ihren Eltern und Großeltern die Kinderschuhe für immer abhanden gekommen sind. Die kleine Ana als Romanerzählerin reicht uns einen Schuhlöffel der uns erinnert, wie gut die Schuhe von einst einmal gepasst haben.