Das Mädchen steht aufrecht auf dem Pferdesattel, die Arme in die Höhe ausgestreckt. Dann hebt es ein Bein in die Luft, wie eine Turnerin, die verschiedene Elemente auf dem Schwebebalken präsentiert. Nur ist in diesem Fall der Schwebebalken lebendig und bewegt sich im Trab im Kreis. Akrobatische Übungen auf einem Pferd haben wir bisher nur im Zirkus oder in Filmen erlebt. Oder in den vielen Pferde-Romanen, die wir als Kinder gelesen haben. Darin geht es immer um ein Mädchen, das reitet. So etwas war im Rumänien der 90er Jahre kaum vorstellbar.
Ein Vorbild für die jüngere Generation
Draußen regnet es in Strömen. Ein eisiger Wind, viel zu kalt für den Monat Mai, rüttelt an den grünen Bäumen. Doch drinnen in der kleinen Reithalle geht es lebhaft zu. Manche Kinder turnen auf einer Matte, andere üben auf einem Holzpferd. Und irgendwann kommen sie an die Reihe und dürfen auf das weiße Pferd steigen, das geduldig wartet. Alles passiert unter Aufsicht des Trainers Ambrusz Szabolcsz, doch bei den akrobatischen Übungen hilft der 17-jährige Magor. Wir sind in Köröspatak-Covasna, rumänisch Valea Crișului, acht Kilometer entfernt von Sanktgeorgen. Hier ist eines der Anwesen der Grafenfamilie Kálnoky. Für die Reitschule, die sich auf dem Gelände befindet, ist die Gräfin Anna Kálnoky zuständig. Vor sieben Jahren, als sie das Hilfsprogramm für Romakinder gestartet hat, im Rahmen dessen Roma-Kinder aus dem Dorf unter anderen auch das Kunstreiten beigebracht wird, war Magor zehn Jahre alt und einer der ersten Schüler im Programm. Er erwies sich als großes Talent und ist inzwischen Rumänien-Meister im Voltigieren. „Wissen Sie, was am wichtigsten ist?“, fragt die Gräfin, indem sie aufmerksam den Bewegungen der jungen Akrobaten folgt. „Jetzt haben die Kinder ein Beispiel. Es ist sehr wichtig, als junger Mensch ein Vorbild zu haben, und wenn es jemand aus demselben Umfeld ist, umso besser. Das schenkt Vertrauen in die Zukunft“, meint sie stolz. Der spätere Berufswunsch von Magor ist, Trainer zu werden.
Eine große Leidenschaft
Doch auf die eine oder andere Weise hat das Kunstreiten allen Kindern geholfen. Sie wurden ehrgeiziger, disziplinierter, ausgeglichener. Alle hatten bessere Noten in der Schule. Und allen bereiten die Übungen auf dem Pferd einen Riesenspaß. Sie sind auch stolz, daran teilnehmen zu können. Jedes Jahr wird eine Auswahl getroffen, nur die begabtesten Kinder dürfen mitmachen. Die Kurse finden zweimal pro Woche statt, immer nach der Schule. Beginnend mit dem Schuljahr 2019/2020 wurde beim Technologischen Lyzeum Puskás Tivadar, in Partnerschaft mit der Reitschule eine Spezialklasse für Schüler eingerichtet, die das Reiten erlernen wollen.
„Ob es regnet oder schneit, sie kommen immer pünktlich. Sie sind nicht bequem wie verwöhnte Stadtkinder. Die Aussage ‘Ich habe keine Lust’ gibt es bei ihnen nicht.“
Beim Voltigieren werden turnerische und akrobatische Übungen auf einem sich an einer Longe im Kreis bewegenden Pferd ausgeführt. Neban dem turnerischen Können sind, wie in allen Pferdesportarten, auch Wissen und Können im Umgang mit dem Pferd von besonderer Wichtigkeit. Das Pferd wird von einem Longenführer auf einer kreisförmigen Bahn (genannt Zirkel) von mindestens 18 Metern Durchmesser (Turniermaß), dem Voltigierzirkel, longiert und läuft in den Gangarten Schritt, Trab oder Galopp. Auf und an dem Pferd können ein bis drei Voltigierer turnen. Als Grundvoraussetzung des Voltigierens gilt das abgestimmte Zusammenspiel zwischen Longenführer, Pferd und Voltigierer, denn sie bilden in diesem Sport eine Einheit und beeinflussen sich gegenseitig unmittelbar.
Jetzt kommt ein Junge an die Reihe, auf den Pferdesattel zu steigen. Es ist der Bruder von Magor. „Er war ein sehr kompliziertes Kind, aber trotzdem ganz begabt. Jetzt hat er sich komplett verändert, der Sport hat ihn diszipliniert“, meint Anna Kálnoky.
„Wir haben vieles von ihnen zu lernen“
Das Hilfsprojekt für Romakinder findet unter der Schirmherrschaft des Malteser Hilfsdienstes in Rumänien statt, der die Mission des Souveränen Malteser Ritterordens weiterführt. Nicht nur Reiten und Voltigieren lernen die Kinder im Rahmen des Programms, sondern auch Weben, Nähen, Schneidern oder Tischlern. Tanzbegabte Jugendliche entfalten sich im Rahmen der Tanzgruppe für Roma- und Volkstänze „Délö“, die bei verschiedenen kulturellen Ereignissen auftritt. Jeder Preis, jede Vorführung, jeder Gegenstand, den die Kinder mit eigenen Händen erschaffen, schenkt ihnen Vertrauen in die eigenen Kräfte.
Stolz zeigt ein dunkelhaariges Mädchen mit großen Augen ihren selbst geschneiderten Polster. Er ist lila und hat die Form eines Hundekopfes mit langen, schmalen Ohren. Das Mädchen kommt seit zwei Jahren zum Kurs und liebt es, mit Wolle zu arbeiten. Sie zeigt uns den von ihr handgeferetigten Filzring und eine Filzblume, die in der Werkstatt neben den Arbeiten ihrer Freundinnen ausgestellt sind. Auch wenn der Handarbeits-Workshop nur zwei Mal in der Woche stattfindet, kommt sie täglich zum Kalnoky-Anwesen, denn hier gibt es auch ein After-School-Programm für Kinder. Die positiven Effekte des gesamten Programms wirken sich auf deren Familien, aber auch auf die gesamte Dorfgemeinschaft aus. Die Roma-Familien werden besser in der Gemeinschaft integriert, junge „Absolventen“ des Programms trainieren den Nachwuchs, Dorfbewohner setzen sich freiwillig für andere ein. „Wenn wir auf die Kinder aufpassen, können wir die Situation in Zukunft ändern. Diese Kinder bekommen sehr viel Liebe in der Familie und wenn sie auch in der Schule und von den Dorfbewohnern Liebe bekommen, werden sie bessere Menschen. Und das ist unser Hauptanliegen“, meint die Gräfin. Zu dieser Umwandlung trägt mit Sicherheit auch der regelmäßige Kirchgang bei, der der Mission des Souveränen Malteser Ritterordens „Bewahrung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“ gerecht wird.
Mit den Kindern können wir uns leider nicht unterhalten. Sie sprechen nur Ungarisch. Es ist auch schwierig, Rumänisch zu lernen, wenn in der Familie und im gesamten Umfeld nur ungarisch gesprochen wird. „Schuld daran sind die Rumänisch-Lehrbücher für Minderheiten. Haben Sie so ein Buch jemals in der Hand gehabt? Das ist ärgerlich“, meint die Gräfin. Sie besucht die Roma-Familien, die auf einem Hügel oberhalb des Dorfes wohnen, oft und bewundert den Alltag der Kinder, die viel Zeit in der Natur verbringen. Sie sind dauernd in der frischen Luft, klettern in Bäumen und kennen alle Heilpflanzen und Pilzarten in der Gegend. Kein Netflix auf der Wohnzimmer-Couch, keine Tik-Tok-Videos. Entgegen aller Vorurteile halten die Familien, aus denen sie kommen, sehr stark zusammen. „Sie lieben ihre Kinder und wollen das Beste für sie. Wir haben vieles von ihnen zu lernen“, meint die Gräfin. Sie ist der Meinung, dass man Leuten aus armen Verhältnissen nicht hilft, indem man ihnen Sachen schenkt. „Sie müssen spüren, dass sie es verdient haben. Ich gebe jetzt das Beispiel mit dem Voltigieren. Es ist jedes Jahr eine ganz strenge Auswahl, wenn wir entscheiden, welches Kind in den Kurs kommt. Doch diejenigen, die es schaffen, lernen es auch zu schätzen. Sie wissen: ich bekomme das, weil ich dafür gearbeitet habe. Nur so können wir wirklich helfen”.
Alle Pferde sind verschieden
Später spazieren wir durch das Anwesen. In Köröspatak und Miklósvár (die Karpatenrunschau berichtete im November 2021 davon) hat die Grafenfamilie Kálnoky über acht Jahrhunderte gewohnt. Prunkvolle Bauten erinnern an diese Zeit. Doch im 20. Jahrhundert wurden die Grafen enteignet und deportiert. Manche von ihnen bekamen nach Ende des Komunismus einen Teil ihres Besitzes zurück. Auch das Schloss in Köröspatak hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bevor die Familie das enteignete Schloss zurückbekam, war es Sitz der lokalen Kommunistischen Parteispitze. Der einstige Familienwohnsitz, ein prachtvolles Gebäude, steht heute dem Verfall nahe. Lange Zeit hat das Geld für Renovierungen gefehlt. Doch dann konnte man mit Hilfe europäischer Gelder einigen Gebäuden den Glanz früherer Zeiten zurückgeben. Das Schloss in Miklósvár wurde renoviert und kann besucht werden. Bald kommen auch das Schloss in Köröspatak und die dazugehörigen Anlagen (Pferdeställe, Reithallen usw) an die Reihe. „Es ist wichtig, dass sich die Pferdeställe gleich neben dem Haus befinden. Das Pferd ist ein Familienmitglied und muss immer ganz nahe sein, damit man gleich eingreifen kann, falls es Probleme gibt“, meint die Gräfin. Die Pferde grasen im Freien, weil es wichtig ist, dass sie so lange wie möglich an die Luft kommen. Es sind unter anderen Shagya-Araber, Lipizzaner, Shetland-Ponys, Bukovina-Pferde und Achal-Tekkiner. „Das ist Willi, das ist Karim, das ist Koheilan, das ist Gergö und das ist Mura“, sagt Anna Kálnoky und streichelt die Tiere liebevoll. Die 30 Pferde tragen Touristen durch das Land, auf manchen lernen Kinder und Erwachsene reiten und die begabten Roma-Kinder aus dem Dorf lernen voltigieren. „Alle Pferde sind verschieden. So wie wir Menschen. Man muss nur sein Potential erkennen und das Beste daraus machen“. Ihr eigenes Potential hat Anna Kálnoky schon als Kind erkannt - sie hat sich gewünscht, Tieren zu helfen, und deshalb war es eine leichte Entscheidung, Tiermedizin zu studieren. Der Gräfin ist es sehr wichtig, Kinder aus ärmeren Verhältnissen zu fördern. Als Kind hat sie sich selbst den Traum von Reitstunden durch Arbeit ermöglicht. Sie säuberte Tiergehege, um aufs Pferd zu dürfen. Reiten gehört zu ihren größten Leidenschaften.
Reiturlaub durch die unangetastete Landschaft
Zusammen mit ihrem Gatten, Graf Tibor Kálnoky, will Anna rumänischen und ausländischen Touristen die Landschaft im Szeklerland zeigen, die sie so lieben. Und diese Gegend kann am besten auf dem Pferdesattel erkundet werden. Das Reittourismus-Projekt wurde im Jahr 2007 gestartet, als ein Familienfreund sein Geschäft in Maramuresch aufgeben musste und das Ehepaar Kálnoky bat, sieben seiner Pferde zu übernehmen. So kamen sie auf die Idee, die Reitkultur im Szeklerland zum Leben zu erwecken. Die Reittouristen kommen meistens aus dem Ausland (England, Australien) und verbringen eine Woche in Siebenbürgen, wobei sie täglich ausreiten. Dass sie von so weit her kommen, ist kein Wunder – in ihren Ländern gibt es inzwischen kaum mehr unangetastete Natur. Vorläufig gibt es in Siebenbürgen ein kleines Reitparadies, und man sollte das schätzen, so lange es noch existiert. Der Reiturlaub in Siebenbürgen ist natürlich nur für erfahrene Reiter gedacht. Man kann auch in der Reitschule aus Köröspatak reiten lernen, doch es dauert ungefähr drei Jahre, bis man erfahren genug ist, um mitzumachen. Im Sommer werden auch Reitferien für maximal 15 Kinder organisiert.
Der Trainer will das weiße Pferd hinausführen, doch die Gräfin ruft ihn zurück. Wir dürfen ein paar Minuten reiten. „Immer nach hinten lehnen!“, ruft sie uns nach. Am Nachmittag folgt, falls das Wetter es zulässt, Hindernis-Springen. Wir müssen aber schon zu unserem nächsten Ziel. Auf der Polizeistation des Dorfes, wo wir nach Auskunft fragen, haben wir eine angenehme Überraschung. Als wir sagen, dass wir für die Allgemeine Deutschen Zeitung für Rumänien arbeiten, meint einer der Polizisten: „Wissen Sie, dass sie hier im Dorf einen Leser haben?“. Wer es ist, verraten wir nicht.