„Ein beschädigtes Schicksal ist eine gute Voraussetzung für das Schreiben“

Lesung von Elise Wilk und Alexandru Bulucz in Kronstadt

Foto: Laura Căpățână Juller

Wäre Alexandru Bulucz mit 13 Jahren nicht nach Deutschland ausgewandert, wäre er vielleicht kein bekannter deutscher Lyriker geworden. Vielleicht wäre er Spargelstecher geworden, wie sein Onkel, der jedes Jahr einige Monate in Deutschland arbeitet, um sein Geld zu verdienen, vermutet der Lyriker selbst. Seine Auswanderung sei eine gute Voraussetzung für das Schreiben gewesen. Das Interesse für das Schreiben hatte Bulucz allerdings bereits vor der Auswanderung entwickelt – damals schrieb er in rumänischer Sprache.

Die Kronstädterin Elise Wilk, eine der meistgespielten Dramatikerinnen der jungen Generation in Rumänien, ist hingegen nicht ausgewandert, obwohl sie siebenbürgisch-sächsische Wurzeln hat. Sie lebt in Kronstadt, ist aber sehr viel unterwegs – ihre Theaterstücke werden weltweit gespielt. 
Beide Autoren lasen am Freitag, den 26. September, in der INSPIRATIO-Galerie aus ihren Werken. Die beiden Autoren brachte Journalist Robert Schwartz im Rahmen des Projekts“Revista 2000+“ in Kronstadt zusammen.

„In jeder Hölle hätte ich das Paradies gefunden“
Die Gedichte, die Alexandru Bulucz verfasst, handeln größ- tenteils von seiner Kindheit in Rumänien in den 1990er Jahren. Sie handeln aber nicht unbedingt von seinem Geburtsland, von einem Gebiet. Vielmehr geht es dem Autor um die verloren gegangene Zeit, der er nachtrauert. In seinen „einerseits fragilen und zarten, andererseits kräftigen bis zornigen Gedichten“ (Jury „Hölty-Preis für Lyrik der Landeshauptstadt und der Sparkasse Hannover“) schreibt er über existentielle Erfahrungen, über Verluste und deren Bewusstwerdung.

„In jeder Hölle hätte ich das Paradies gefunden“, sagte er bei einer Lesung in Kronstadt. Die schwierige Situation im Land und besonders zu Hause hat er als Kind nicht erkannt – seine Mutter jedoch schon. Sie entschied, mit dem jugendlichen Sohn und der Tochter zu emigrieren. Der junge Alexandru verlor somit alles: seine Klassenkameraden, seine Freunde, den Vater, den Sport, das Essen. Er verlor das Glück, das er inmitten des Elends gefunden hatte. Er begann ein neues Leben, erlernte eine neue Sprache und fasste seine Emotionen und Gedanken in Worte zusammen. „Die Geschichte spült sich in die Gegenwart, in die Zukunft“. Das Bewusstwerden der Veränderungen, der Verluste und erst die Akzeptanz dieser Verluste macht die Gegenwart verständlicher, erklärte er beim Treffen mit den Lesern.

Von geklauten Spielzeugautos und Schmiergeld 
Außer den journalistischen Texten, die sie auf Deutsch schreibt, verfasst Elise Wilk ihre Texte hauptsächlich auf Rumänisch – und hauptsächlich über das gegenwärtige Geschehen. Ihre Theaterstücke haben aber immer auch Bezug zur Vergangenheit. In vielen Stücken sind die Figuren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Welten – Rumänien und die Wahlheimat Deutschland, zwischen Menschen hin und her gerissen. Sie sind entwurzelt, suchen nach Identität und Zugehörigkeit.

Im Rahmen des Projekts „Revista 2000+“ hatten zahlreiche Honterusschüler und interessiertes Publikum die Gelegenheit, an der literarischen Begegnung „Zwischen Sprachen, Zeiten und Orten“ teilzunehmen. In der INSPIRATIO-Kunstgalerie sprachen die Autoren am 26. September über ihr Pendeln zwischen den Sprachen und Welten, sowie über die Verbindung zwischen Damals und Heute. Sie lasen aus ihren Werken vor.

Elise Wilk wählte mehrere Abschnitte aus Monologen älterer und neuerer Theaterstücke – Alaska (2024), Verschwinden (2019) und Papierflieger (2015) – in der Übersetzung von Ciprian Marinescu und Frank Weigand aus. So konnten sich die Zuhörer vorstellen, wie ein junges Mädchen in den 80er Jahren ihr Idol David Hasselhoff auf einem Abziehbild bewunderte und sich schließlich in den Vater eines bekannten Jungen verliebte, der eigentlich bei der Securitate arbeitete. Man kicherte über lustige Details, verfolgte den Text leicht mit, erkannte aber den Ernst der Situation. Schwere Entscheidungen, die Suche nach Zugehörigkeit, Geheimdienst, Vertrauen, Liebe. Themen, die bewegen.

Die Zuhörer konnten sich auch sehr gut ausmalen, wie der junge Bulucz im Sommer 2000 bei der Busfahrt mit dem Atlassib-Bus über N˛dlac gefühlt haben muss, als er ein neues Leben begann –diesen wichtigen Lebensabschnitt thematisiert er in seinem Lyrikband „was Petersilie über die Seele weiß“ (2020).

Selbstlose Flüsse... Schmiere... Erinnerungszonen... Passionsgesänge. Nur einige der Worte aus Gedichten, die Bilder und Stimmungen erzeugen und in der Erinnerung bleiben. In Erinnerung bleiben – das ist es, was die Geschichten und Texte von Elise Wilk und Alexandru Bulucz so stark macht. Auch wenn der Schreibstil der beiden Autoren sich stark voneinander unterscheidet, sind die Texte sehr tiefgründig und berühren den Leser noch lange nach der Lektüre. 
„Dies Gedicht ist schlecht. So schreibt man nicht“. Alexandru Bulucz erinnert sich gerne an Werner Söllner, der drei seiner Gedichte für die erste größere Veröffentlichung - im „Der Literaturbote“ in Frankfurt lektorierte. „Es war ein erstes Wachsen innerhalb des Betriebs“.Elise Wilk graust es, wenn sie an eines ihrer ersten Theaterstücke zurückdenkt, das sie während der Schulzeit verfasste. „Der Text war sehr schlecht. Bei der Aufführung bei einer Schulfeier in der Schule hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst, damit mich niemand sieht, so schlecht fand ich den Text“, erzählte sie.  Trotz der negativen Erfahrungen sind beide Autoren ihrem inneren Drang zum Schreiben gefolgt. Und das unterstrich Robert Schwartz, Moderator der literarischen Begegnung für die anwesenden Schüler, denen das Treffen im INSPIRATIO als Inspiration dienen soll: „Man macht dennoch weiter. Lasst euch nicht fertig machen!“

Projekt für Schüler
Die Veranstaltung richtete sich an deutschsprachige Schüler, die durch diese Lesung Freude am Lesen und Schreiben entwickeln und ihr Können in der Schülerzeitschrift „Revista 2000+“ zeigen können. Diese nationalweite Schülerzeitschrift hat im September bereits zwei berühmte preisgekrönte Autoren zusammengebracht: Eginald Schlattner und die rumänisch-schweizerische Schriftstellerin Dana Grigorcea. Letztere hatte eine Lesung mit Schülern vom Brukenthal-Nationalkolleg im Erasmus-Büchercafe.Die Schüler aus Kronstadt und Hermannstadt sind gemeinsam mit Schülern vom Goete-Kolleg Bukarest Redakteure der wiederbelebten „Revista2000+“ (die KR berichtete am 17. September, die ADZ am 26. September).Sie verfassen neue Artikel und Videos, die auf der Internetseite revista2000.ro hochgeladen werden. Im Dezember erscheint auch die gedruckte Ausgabe der Zeitschrift.