Der Direktor und Vorstandsvorsitzender des Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e.V. (IKGS), Professor h.c. Dr. Stefan Sienerth, der nach seiner Ausreise Anfang der 90er Jahre, als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim damaligen Südostdeutschen-Kulturwerk, SOKW, München, begann, und 2005 die Leitung des IKGS übernahm, wurde anlässlich einer Internationalen Tagung zu dem Thema Rumäniendeutsche Erinnerungskulturen in den Ruhestand verabschiedet. An der Veranstaltung nahmen zahlreiche Wissenschaftler, Weggefährten sowie ein interessiertes Publikum teil.
Den Auftakt machte Dr. Kathrin Schödel, eine junge Wissenschaftlerin, die einen Abriss zu dem Thema ‘Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien’ vortrug. Anhand von Beispielen aus den Büchern Atemschaukel und Vater telefoniert mit den Fliegen von Herta Müller, erläuterte sie uns die kollektiven wie subjektiven Wahrnehmungen historischer Zusammenhänge. Das kommunikative Gedächtnis, alltagsnah und gruppengebunden, ist bei Frauen stärker vorhanden, während Männer eher ein politisch-kulturelles Gedächtnis haben, wie der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann in seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis nachweist. Besonders die Collagen von Herta Müller stehen für Erinnerungsreichtum!
Dr. Bernhard Böttcher erforschte die Rolle von Gedenkstätten und Denkmäler, im Blick auf eine öffentliche Erinnerungskultur. Vom Baltikum über die Slowakei und Rumänien, besuchte er Gedenkstätten, Denkmäler auf Friedhöfen, und konfrontierte / provozierte uns im Verlauf seines Beitrags ‘Die auf den Ersten Weltkrieg bezogenen Erinnerungskulturen bei den Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in der Zwischenkriegszeit’ mit einer Vielzahl von Fragen: Sind Kriegsdenkmäler Erinnerungsorte?
Wurden sie gar aus symbolischen Gründen geschaffen, um den Krieg in der Erinnerung zu verlängern? Hatten die Minderheiten mit dem Bau der Denkmäler ein Problem? Gab es feierliche Einweihungen? Die Verarbeitung der Kriegserlebnisse begann unmittelbar nach 1918. Dabei taten sich die Verlierer schwerer, da sie analytischer und schärfer zurückblickten. Im Banat besuchte er die Friedhöfe in Temeswar, Lenauheim, Gertianosch und Mercydorf, um festzustellen, dass durch die Inschriften einer schlichten Trauer Raum gegeben wurde. Die Skulpturen von Soldaten und/oder Trauernden waren berührend und unmartialisch – typisch für das Banat. In Siebenbürgen besagen die Inschriften auf zahlreichen Denkmälern, dass an beide gemeinsam gedacht wurde: an die Siebenbürger und die Reichsdeutschen. Allerdings, in Kerz wurden zwei Denkmäler errichtet: für die eigenen Toten und eine Rolands-figur für die gefallenen Reichsdeutschen. Böttcher stellte fest, dass alle Toten als Helden aufgewertet wurden, dass der Heimatbegriff, das Vaterland, ebenso wie das Eiserne Kreuz stärkere Betonung fand. Durch die gemeinsame Trauer stifteten diese Gedenkstätten Identität, und trugen mit dazu bei, dass die Schrecken des 1.Weltkriegs verarbeitet werden konnten.
Der österreichische Historiker Dr. Florian Kührer-Wielach, Jg 1982, der seine Dissertation über ‘Siebenbürgen ohne Siebenbürger?’ schrieb, und ab Mitte Juli wissenschaftlicher Mitarbeiter im IKGS sein wird, sprach über ‘Die Erinnerung an den „Kampf gegen den Faschismus“ in der Historiografie der Deutschen im kommunistischen Rumä-nien’.Durch seine Zugehörigkeit zur K&K Monarchie, war das Banat sowie das Banater Bergland die Wiege der Sozialdemokratie. Also war im Banat die Arbeiterbewegung gegenwärtig. Im Oktober 1932 erschien in Reschitza/Re{i]a erstmals „Das Freie Wort“, eine Zeitung, die sich um Kontakt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten bemühte. Nach nur sechs Monaten musste sie – auf Druck der Behörden – ihr Erscheinen einstellen. 1949 wurde nicht nur das Deutsche Antifaschistische Komitee gegründet, sondern auch die Tageszeitung ‘Neuer Weg’. Aber erst die Gründung einer Forschungsstelle 1956 und 1959 die Herausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift ‘Forschungen zur Volks- und Landeskunde’ trug zum internationalen wissenschaftlichen Austausch zu Fragen der Arbeiterbewegung bei.
Zur Auflockerung trug die Lesung des Schriftstellers Franz Hodjak, Jg. 1944, bei, die er Stefan Sienerth widmete, den er 1966 kennen lernte. Franz Hodjak, der von 1970-1992 im Dacia-Verlag, Klausenburg, lektorierte, übersiedelte 1992 in die Bundesrepublik, wo er im Verlauf der Jahre zahlreiche Preise erhielt, und Stadtschreiber in Mannheim, Minden und Dresden war. Seine Lesung war ein willkommener Abschluss des ersten Veranstaltungstages.
Dr. Réka Sánta-Jakab-házi, Jg.1973, die 2003 über „Identität, Gattung und Form im Werk Franz Hodjak“ promovierte, filterte in ihrem Vortrag ‘Facetten der poetischen Identitätskonstruktion in den Werken von Franz Hodjak’ Seiten des Schriftstellers heraus, die ihm selber nicht bewusst waren! Sie erläuterte, dass einige der rumäniendeutschen Autoren, wie z.B. Eginald Schlattner, die Heimat in der Erinnerung verklären, ja, nostalgisch behandeln. Nicht so Hodjak, der dazwischen stehe, und sich mit sarkastischen Untertönen von der Nostalgie distanziert. Er sei ein zurückhaltender Beobachter, der in seinen Romanen historische Stoffe beleuchtet ohne diese zu mystifizieren. In seinem Roman ‘Ein Koffer voll Sand’ , wo Autobiografisches aus Kindheit und Militärzeit einfließt, gibt er – leicht resignativ – die Odyssee der Siebenbürger Sachsen wieder. In seiner ironischen Sprache hält er sowohl den Ost- als auch den Westeuropäern den Spiegel vor.
Der Beitrag des rumänischen Wissenschaftlers Cristian Cercel, ‘Die Rolle der Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion in den Erinnerungskulturen der in Deutschland und Österreich lebenden Siebenbürger Sachsen 1949 – 1969’, schloss mit der Feststellung, dass die Deportation für die in der Bundesrepublik lebenden Siebenbürger Sachsen kein Thema war, wohl auch bedingt durch die mangelnde Information in den 50er und 60er Jahren. Beim politischen Diskurs fand keine Differenzierung zwischen den ehemals Deportierten und den Vertriebenen statt.
Prof. Dr. Dr. Harald Heppner, Universität Graz, und Mitglied im Kuratorium des IKGS, änderte sein ursprüngliches Thema: ‘Das rumänische Banat in der Erinnerungskultur der schwäbischen Dorfbewohner im 20. Jahrhundert’, in: ‘Rurale Erinnerung im Banat um die Jahrtausendwende’. Der private Erinnerungshorizont umfasste: Haus – Hof – Feld. Im kollektiven Gedächtnis blieb z.B. die Enteignung, sowie das Verhältnis des Dorfes zum kommunistischen System. Bei seiner 2003/ 2004 durchgeführten Forschungsarbeit ‘Das Dorf im Kopf’, wurde trotz des Strukturwandels im Banat versucht, rurale Erinnerungen bei der Dorfbevölkerung abzurufen. Wobei sich herausstellte, dass 1989 / 1990 kein Erinnerungspotenzial war, obzwar doch bei jedem Regimewechsel die Politisierung der Erinnerungskultur sichtbar wird. Der Exodus der Rumäniendeutschen wurde von der Politik bedauert, nicht aber von den Verbliebenen; Zugewanderte werden auch bisweilen als Eindringlinge angesehen!
Die Sektion Literatur wurde nach dem kompetenten Referat von Dr. Sánta-Jakabházi mit dem Beitrag von PD Dr. Markus May, fortgesetzt. Er promovierte 2004 über Paul Celan. Sein Thema: ‘Visionen und Revisionen. Dieter Schlesaks „Vlad, der Todesfürst – die Dracula-Korrektur“ im Erinnerungskulturellen Agon’. Schlesak setzt sich im Vorwort der 2. Auflage, 2008, kritisch mit dem historischen und literarischen Konzept Bram Stoker’ auseinander, der im Grunde nur wenige Details über Vlad kannte. „Dracula zeigt etwas von der irren Situation unserer Zivilisation“, also Vlad als Machiavellist, der als nationales Symbol galt, und dem Diktator Ceauşescu ein Denkmal setzte!
Abschließend sei noch der Beitrag der Banater Germanistin, Dr. Grazziel-la Predoiu, erwähnt, die ‘Über Inszenierung von Erinnerung und Gedächtnis in den Texten von Herta Müller’ sprach. Ausgehend von der Überlegung, dass in allen Texten Müllers die Diktaturen aus der Perspektive des selbst Erlebten oder aus der Sicht einer ‘sekundären Zeitzeugin’ angeprangert werden, untersuchte sie, unter Rückgriff auf Aleida Assmanss Erinnerungsdiskurs, den Roman ‘Atemschaukel’.
Eingebettet in die Sektion Literatur fand die Festveranstaltung zu Ehren von Prof. Dr. Dr. Anton Schwob und Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth statt. Bevor die Laudatoren zu Wort kamen, sprach Sabine Deres, Ministerialrätin beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und Vorsitzende des Kuratoriums des IKGS, ein Grußwort, indem sie unterstrich, dass im IKGS stets ein besonderer Geist herrschte, der mit dazu beigetragen habe die siebenbürgische Kultur vor dem Vergessen zu retten. Persönliche Eitelkeit war Sienerth fremd, denn ohne großen Wirbel auf der wissenschaftlichen Bühne verankerte er das kleine, feine IKGS zu einem Solitär, machte die Rumäniendeutsche Literatur bekannt, und setzte auf Kontinuität.
„Man könnte auch sagen, dass Veränderungen Sie nicht begeisterten! Die Zweifler entwaffneten Sie mit der Vielfalt, sowie dem breit angelegten Forschungsbereich. Ehrung ist ein Abschied. Eine neue Generation wird die Uhren anders stellen! Eine Ära geht zu Ende. Für die Zukunft des IKGS wünsche ich eine glückliche Hand...“
Prof. Dr. Jürgen Lehmann, Jg. 1948, Kuratoriumsmitglied des IKGS, hielt die Laudatio auf Stefan Sienerth, auf sein Leben und seine wissenschaftliche Laufbahn. Geboren 1948 bei Mediasch, studierte Sienerth 1966-1971 Philologie in Klausenburg, promovierte 1979 an der Universität Bukarest über ‘Siebenbür-gische Lyrik um die Jahrhundertwende’. Am Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hermannstadt, arbeitete er am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch mit. 1990 Aussiedlung in die Bundesrepublik, wo er ab 1991 im Süd-Ostdeutschen Kulturwerk, dem Vorläufer des heutigen IKGS, seine neue Wirkungsstätte fand. Zu-nächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, um ab 2005 die Leitung zu übernehmen, die er bis heute erfolgreich innehatte. Er baute Brücken zwischen Instituten Südosteuropas, und war gemeinsam mit seinem „Bruder im Geiste“, Dr. Peter Motzan, ein ständiger Vermittler zwischen rumänischer und rumäniendeutscher Literatur.
Autoren, die zum Verstummen gebracht werden sollten, hat Sienerth hörbar gemacht. Wichtig war seine Arbeit „Gegen das Vergessen“: Bei der rumänischen „Gauck-Behörde“, CNSAS, deckte er in den ‘Securitate’ Akten erschreckendes, abgründiges Material auf, die er ab 2009 in Veranstaltungen und in Publikationen öffentlich machte.
In seiner kurzen Dankesrede betonte Stefan Sienerth, dass das gesamte Team des IKGS zum Erfolg beigetragen habe, und „die Anwesenheit zahlreicher ehemaliger Weggefährten, Autoren und Professoren lässt mein Herz höher schlagen. Das IKGS hat ein gutes, tragfähiges Fundament, so dass ich meinem Nachfolger Dr. Gerald Volkmer Erfolg, und weiter gutes Gelingen wünsche.“
Prof. Dr. Thomas Kre-feld, Mitglied im Vorstand des IKGS, hielt eine kurze Festrede auf den abwesenden Prof. Dr. Dr. h.c. mult Anton Schwob, der 1937 in Apatin, Jugoslawien geboren, nach traumatischen Kindheitserlebnissen im Lager Gakovo/Sombor, 1947 gemeinsam mit seiner Mutter nach Österreich fliehen konnte. Ab 1957 studierte er Germanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten in Marburg, München und Innsbruck, wo er 1967 mit der Arbeit ‘Siedlermischung und Sprachausgleich in jungen südostdeutschen Sprachinseln am Beispiel der Mundart von Neubeschenowa im Banat’ promovierte. Vom Mai 1960 bis Dezember 1962 war er als Geschäftsführer beim Süd-Ostdeutschen Kulturwerk tätig, und führte in dieser Zeit das SOKW vom „Einpersonengeschäft“ zu einer selbstständigen Institution. 2003 wurde er in den Vorstand des IKGS berufen. Seine Abwesenheit wurde allgemein bedauert.