Schätzungen zufolge haben vier Millionen rumänische Staatsbürger in den vergangenen zwanzig Jahren das Land verlassen, ein nicht unbeachtlicher Anteil davon als „Wanderarbeiter“ auf der Suche nach einem minimalen Auskommen. Wie viele Kinder und Jugendliche dabei im Land zurückgelassen worden sind, ist unklar. Laut Jugendamt sind es rund 100.000, davon leben 30.000 getrennt von beiden Eltern oder von dem alleinerziehenden Elternteil. Laut Schulinspektorate liegen die Zahlen bei 160.000 zu 45.000, während Nichtregierungsorganisationen von der doppelten Größenordnung ausgehen. Wie auch immer die Zahlen ausfallen, sie sagen zwar etwas über das Ausmaß des Phänomens aus, nichts jedoch über das individuelle Leid, das jedes einzelne dieser sogenannten „Eurowaisenkinder“ erfährt.
Höchste Zeit, auf das gesellschaftliche Problem auch literarisch aufmerksam zu machen. Im Roman „Immer wenn ich meine Augen schließe“ nimmt sich der Schriftsteller Zoltán Böszörményi des Themas an. Die Handlung spielt in den Reihen der ungarischen Minderheit in Rumänien und ist schnell zusammengefasst: Ein elfjähriges Mädchen, dessen alleinerziehende Mutter im Ausland arbeitet, geht an Einsamkeit und Sehnsucht zugrunde. Mit seinen nicht einmal 130 Seiten und dank der knappen, konzentrierten Sprache ist dieses Buch leicht zu lesen. Aufgrund seiner Tragik ist es jedoch kaum zu ertragen. Die Lektüre stimmt den Leser nachdenklich und schafft ein Bewusstsein dafür, dass die Hilferufe der Schwächsten in unserer Gesellschaft in der Regel nicht oder zu spät gehört werden.
Der Roman ist aus der Per-spektive der Hauptfigur geschrieben und enthält pointierte Nahaufnahmen aus dem Mikrokosmos eines stets anstrengenden und wechselnden „Zuhauses“. Die Mutter ist fast die ganze Zeit abwesend, man erfährt auch nicht, was sie in Italien genau macht. Die Tochter – und mit ihr auch der Leser – fangen lediglich Wortfetzen auf, aus denen sich ein Bild zusammensetzt, das stets unvollständig bleibt. Über den Vater weiß man nichts, eine Familie im klassischen Sinne hat es nie gegeben. Die Großmutter kümmert sich nur sehr widerwillig um das Mädchen und lässt es mit jedem Wort und jeder Geste verstehen, dass es ihr zur Last fällt. Das Kind wird dann von einer Freundin der Mutter zeitweise aufgenommen. Dort kann es zwar mit gleichaltrigen Kindern spielen, muss aber in bitterster Armut ausharren, hungern, auf dem Fußboden schlafen und Szenen häuslicher Gewalt beiwohnen, die ihrem Alter und der menschlichen Würde nicht angemessen sind. Kein Wunder, dass das Mädchen ab Seite 8 in einem Krankenzimmer liegt.
Das Buch ist voller Streit, Armut und Armseligkeit, bevölkert von Erwachsenen, die kläglich versagen. Der Kontrast zu einer kindergerechten Lebenswelt – die Hauptfigur liebt es, im Park zu spielen und Märchen zu hören – tut weh. Das Mädchen bräuchte nichts weiter als ein wenig wohlwollende Zuwendung, um glücklich zu sein, dies bleibt ihm aber verwehrt. Es leidet vielfach: an Einsamkeit und Enttäuschung, an Ablehnung und Schuldgefühlen, am verzweifelten Versuch, so wenig Raum wie möglich für sich zu beanspruchen.
Dabei eröffnet die Handlung des Romans genügend Chancen, das Kind zu retten. Eine Lehrerin versucht, die Großmutter zu überzeugen, dass das magersüchtige Kind zum Arzt gebracht werden muss. Das Krankenhauspersonal bemüht sich, die Patientin wieder gesund zu machen. Die Presse strahlt eine Reportage über die Zustände aus. Die Mutter einer Krankenzimmernachbarin schafft – zum ersten und letzten Mal im Roman – eine aufheiternde Atmosphäre für die kleinen Patientinnen. Sie lässt die Wände mit Märchenfiguren bemalen, lädt Clowns zwecks Bespaßung ein: Dieser Lichtblick, auf den die gesamte Romanhandlung hoffen lässt, kommt jedoch zu spät. Man fragt sich, wo die Mutter bleibt, die so dringend herbeiersehnt wird, und wo die Gesellschaft bleibt, die sich um ein Problem kümmern müsste, das längst keine private Angelegenheit mehr darstellt.
Aus der Perspektive und Lebenswelt eines Kindes glaubwürdig zu schreiben ist gewiss eine schriftstellerische Herausforderung, der beispielsweise die deutsche Autorin Juli Zeh im Roman „Neujahr“ meisterhaft begegnet ist. Das Buch von Zoltán Böszörményi in der Übersetzung des Schriftstellers Hans-Henning Paetzke ist auch in dieser Hinsicht sehr gelungen und überzeugend. Kritisieren könnte man höchstens Kleinigkeiten, etwa dass die Erzählung der Clowns im Krankenhaus zu verzweigt ausfällt und zu viel Raum einnimmt, oder dass einige Beobachtungen der Hauptfigur doch sehr „erwachsen“ wirken – Letzteres kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass ein einsames Kind zwangsweise frühzeitig erwachsen werden muss.
„Immer wenn ich meine Augen schließe“ ist nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Zoltán Böszörményi und Hans-Henning Paetzke. Erschienen sind bereits der Erzählband „Todsünde“, der Roman „In den Furchen des Lichts“ sowie Gedichte und Erzählungen unter dem Titel „Notlandung“. In rumänischer Sprache hat der Autor vor längerer Zeit „O sum˛ de sonete“ und „Trupul molatic al nop]ii“ veröffentlicht.
Die Biographie von Zoltán Böszörményi könnte selbst jene einer Romanfigur sein. Der Schriftsteller, Publizist und Geschäftsmann ist in Arad geboren und hat die Schule in seiner Geburtsstadt und in Klausenburg/Cluj besucht. Er arbeitete als Bauarbeiter, Pädagoge, Korrektor einer Tageszeitung, geriet nach dem Erscheinen seiner ersten zwei Gedichtbände in den Fokus der Securitate, floh aus Rumänien, studierte in Toronto Philosophie, baute sich als Unternehmer eine internationale Karriere auf und ist aktuell in fünf Ländern auf zwei Kontinenten zu Hause. In Ungarn erhielt er 2012 den Attila-József-Literaturpreis, in Rumänien gründete er die Publikationen „Nyugati Jelen“ und „Irodalmi Jelen“. Es wäre wünschenswert, dass „Immer wenn ich meine Augen schließe“ auch in rumänischer Sprache erscheint.