100 Jahre seit dem Weltkriegsjahr 1916 boten den Anlass der Opfer zu gedenken, die dieser Erste Weltkrieg verursacht hat. Die Kriegsschauplätze sind als solche nur noch auf Fotos, in Filmen oder in Romanen zu finden. Historische Nachstellungen großer Schlachten sind ein Hobby für sich und eine touristische Attraktion geworden. Erhalten geblieben sind zahlreiche Denkmäler und Militärfriedhöfe, wo jene ruhen, die in ihrer Heimat oder fern ihrer Heimat ihr Leben frühzeitig beenden mussten. Zwei Soldatenfriedhöfe bei Dragoslavele im Kreis Argeş brachten zufällig zwei ganz verschiedene Leute zusammen und führten sie zu einer besonderen Feundschaft. Der eine war der Kriegsfreiwillige Fritz Ortlepp (geboren 1897 in Neustadt an der Saale); der andere der orthodoxe Pfarrer Ioan Răuţescu (geboren 1892 in Dragoslavele, wo er ab 1914 mehrere Jahrzehnte als Pfarrer dienen sollte). Ihre Freundschaft ist einem Zufall zu verdanken. Ermöglicht wurde sie aber von gegenseitiger Achtung, dem Interesse von Ortlepp für Rumänien und Rumänen, den exzellenten Deutschkenntnissen von Pfarrer Răuţescu, seinem Einsatz für die Pflege der Soldatengräber, selbst wenn die Gefallenen den einst feindlichen Armeen angehörten.
Von der jüngsten der neun Töchter des Pfarrers, Elena Petroşanu Răuţescu, die einzige die noch am Leben ist, kann man Einiges dieser jahrzehntelangen und Grenzen überwindenden Freundschaft erfahren: Begonnen hat sie im Sommer 1929, als der damalige Steuerinspektor beim Finanzamt Halle/Saale Fritz Ortlepp jene Orte besuchte, wo er 1916 als Unteroffizier an den Kriegshandlungen teilgenommen hatte. In der Nähe des Mausoleums von Mateiaş, wo er Fotos des Denkmals und der Landschaft schoss, stieß er auf mehrere Kinder, die ihre Kühe beim Weiden hüteten. Diese gaben Ortlepp zu verstehen, gerne auch auf den Fotos zu erscheinen. Ortlepp kam ihrem Wunsch nach und erfuhr dabei, dass es bei Dragoslavele einen Pfarrer gäbe der sehr gut Deutsch sprechen kann. Dem Pfarrer schickte er nachher die Fotos mit der Bitte, die Kinder zu identifizieren und ihnen die Bilder auch zukommen zu lassen.
Der Pfarrer bestätigte die Foto-Übergabe. Aus dem Briefwechsel erfuhr Pfarrer Răuţescu, dass Ortlepp für eine Arbeit über die Kämpfe im Gebiet Bran-Dragoslavele weitere Infos und Unterlagen über die rumänische Armee benötigte. Ortlepp schickte später eine Kopie seines Manuskriptes an seinen Freund aus Dragoslavele mit dem Vermerk, dass es wohl noch etwas Zeit dauern werde, bis dieses Werk in einem deutschen Verlag oder in einer Zeitschrift erscheinen werde. Pfarrer Răuţescu zögerte nicht lange und übersetzte die Beschreibung der Kriegshandlungen des Spätherbstes 1916 in seiner Heimatregion ins Rumänische. Ausschnitte davon erschienen in „Curierul Nostru“ aus Câmpulung Muscel. 1933 konnte die Abhandlung als Buch auf Kosten des Pfarrers in derselben Kleinstadt erscheinen. Jahrzehnte später (2003) besorgte die Pfarrerstochter Elena Petroşan eine Neuauflage dieses Buches im Verlag Phoenix (siehe auch KR 29 vom 17. Juli 2004).
Răuţescu hatte selber ein persönliches Tagebuch über die Kriegszeit gehalten, wo er auch Verluste in seiner eigenen Familie verzeichnen musste: sein Vater, Ion, wird von einer Kanonenkugel vor seinem Haus in Vâlcea, wohin sich die Familie zurückgezogen hatte, tödlich getroffen; der Bruder Daniil stirbt als rumänischer Soldat an der Front bei Bratocea. Krieg und damit verbundenes persönliches Leid verhinderten jedoch nicht diese Freundschaft. Sie dauerte Jahrzehnte; Ortlepp besuchte mehrmals Rumänien, auch mit seiner Frau Elsa und seiner Tochter Gudrun. Beide sagten, das Heimatland des Freundes sei zu ihrem „zweiten Land“ geworden.
Ortlepps Aufzeichnungen über den Einsatz an der rumänischen Front sind nur ein Teil eines großen, vielfältigen Nachlasses, der nach 1990 vom Militärarchiv der DDR in die Abteilung Militärarchive des Bundesarchivs gelangte. Dort werden sie folgendermaßen beschrieben: „Herzstück des Bestandes Fritz Ortlepp sind umfangreiche Kriegserinnerungen, welche Ergebnis der akribischen Aufarbeitung eigener Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges auf Basis nicht mehr erhaltener Tagebücher sind. Als ungewöhnliches Selbstzeugnis einer hinsichtlich Stellung und Funktion eher unbedeutenden Persönlichkeit handelt es sich um eine in Form, Umfang und Detailreichtum bedeutende Überlieferung zur Rezeption des Ersten Weltkrieges.
Auch der Mensch Fritz Ortlepp ist darin besser erkennbar als in den wenigen übrigen Selbstzeugnissen. (…) Die Kriegserinnerungen und häufig auch seine sonstigen Ausarbeitungen enthalten sowohl eigene als auch Reproduktionen fremder Fotos, zahlreiche Bildpostkarten, Zeitungsausschnitte, erläuternde Kartenanlagen sowie selbstgefertigte Lageskizzen und Zeichnungen (u.a. von Unterständen, Waffen und Personen). Die unterschiedlichen Anlagen dokumentieren vor allem den Frontalltag der Soldaten und veranschaulichen anhand zahlreicher Landschafts-, Orts-, Gebäude- und Personenaufnahmen die regionalen Besonderheiten sowie das Leben der Bevölkerung.“
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Ortlepp Leiter des Betriebsarchivs und des Optischen Museums (Wissenschaftlicher Abteilungsleiter) im VEB Optik Carl Zeiss Jena. Ihm blieb leider ein weiterer Schicksalsschlag nicht erspart. Auf derselben Webseite des Bundesarchivs heißt es:„Nach seiner Verhaftung am 2. April 1958 wurde Fritz Ortlepp am 11. Juli1958 wegen angeblicher Hetze gegen die DDR zu 5 Jahren Haft verurteilt und in die Justizvollzugsanstalt Waldheim bei Chemnitz eingeliefert, wo er am 12. Januar 1959 an einem Herzschlag verstarb.“
Sein rumänischer Freund Ioan Răuţescu war bis 1968 Pfarrer in seiner Heimatgemeinde. Er hinterließ mehrere heimatkundliche Arbeiten, zwei von ihnen (die Dorfmonographien „Dragoslavele“ 1923 zusammen mit Constantin Rădulescu Codin, und „Topoloveni“ 1939) wurden von der Rumänischen Akademie ausgezeichnet. Pfarrer Răuţescu starb am 19. Mai 1974 in Dragoslavele.
Ralf Sudrigian