10 Sekunden. Solange hat die Schweizerin Cornelia Fischer gebraucht, um sich zu entscheiden: ich gehe nach Rumänien. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Psychiatrie, als das Angebot kam, zusammen mit der Hilfsorganisation Amurtel ein Kinderheim im Kreis Buzău aufzubauen. Und sie nahm das Angebot an. Es war 1991, ein Jahr nach der Wende. Im postkommunistischen Rumänien herrschte Chaos. Die ersten Bilder, die der Schweizerin durch den Kopf gehen, wenn sie an ihre ersten Tage in Bukarest denkt, sind grau: grau waren die Straßen, die Gebäude, die Gesichter der Menschen. Fünf Mal wurde sie in Bukarest auf offener Straße beraubt. Und keine Sekunde hat sie daran gedacht, heimzukehren. Heute lebt Cornelia Fischer im Dorf Pănătău, gelegen an der DN-10- Nationalstraße, die Kronstadt mit Buzău verbindet. Die Gegend am Fluss Buzău, eingebettet in eine malerische Landschaft von grünen Hügeln und Bergen, ist seit drei Jahrzehnten ihr Zuhause. Hier hat sie ein Kinderheim, einen Schülerhort, eine Pension, einen Gemüsegarten gegründet und hat noch vieles vor.
Eine Entscheidung fürs Leben
Der weiße Kleinbus, der aus Kronstadt kommt, fährt an einem kühlen Nachmittag Anfang April durch das Nehoiu-Tal. In der Ortschaft Valea Lupului, etwa 60 Kilometer entfernt von Buzău, erscheint auf der linken Seite eine Pension, umgeben von blühenden Bäumen. Zehn Kilometer vor unserem Ziel hatten wir die Handynummer von Cornelia Fischer gewählt. „Bună ziua!“, antwortet eine Frauenstimme. Zuerst glaube ich, dass ich eine falsche Nummer gewählt habe.„Ich möchte Frau Fischer sprechen“, sage ich etwas verlegen. „Eu sunt doamna Fischer!“, antwortet die Frauenstimme in einem akzentfreien Rumänisch. Auf dem Parkplatz der Pension „Valea Lupului“ begrüßt sie uns mit einem breiten Lächeln. Als sie sich Anfang der 90er Jahre entschloss, nach Rumänien zu kommen, hatte sie ein schönes Leben in der Schweiz. „Aber irgendwie langweilig und voraussehbar. Ich wünschte mit etwas anderes“, meint sie. Schon 28 Jahre ist Cornelia in Rumänien, wo sie im Dorf Pănătău ein Kinderheim aufbaute, finanziell getragen von Menschen aus der Schweiz. 20 Jahre lang hat die heute 70jährige das Heim geleitet. Inzwischen sind viele Kinder schon erwachsen und in die Gesellschaft und ins Berufsleben integriert.
Nach ihrer Pensionierung hat sie im Jahr 2013 die Pension „Valea Lupului“ eröffnet. Die Idee war, dass Jugendliche aus dem Heim hier erste Erfahrungen im Berufsleben sammeln sollten - etwa am Wochenende in der Pension Hilfsarbeiten ausführen oder an den Tischen servieren. Eine junge Frau aus dem Heim wurde als Zimmerfrau angestellt. „Auch wenn nicht so viele ehemalige Heimkinder hier arbeiten - Leute aus dem Dorf fanden hier einen Job, und das ist auch wichtig“, meint die Schweizerin.
Ein Namensschild wie auf jeder Haustür
Mit ihrem Wagen fahren wir ins nächste Dorf, Pănătău, wo die Hilfsorganisation Amurtel vor fast drei Jahrzehnten das Kinderheim eröffnete. „Familia Amurtel“ steht auf dem Namensschild am Zaun. „So wie auf jeder Haustür der Name der Familie steht. Wir sind hier auch eine Familie“, meint Cornelia. Die ersten Heimkinder kamen aus ganz Rumänien, erinnert sie sich. Entweder aus Kinderheimen, oder aus Familien, die es sich nicht mehr leisten können, sie großzuziehen. Heute stammen alle Kinder aus der Umgebung. „Entweder ist die Familie sehr arm oder die Eltern sind geschieden oder arbeiten im Ausland und können sich nicht mehr um die Kleinen kümmern“, erklärt Cornelia Fischer.
Es sind Kinder, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, die im Elternhaus schreckliche Gewalt erleben mussten, für die Angst ein Normalzustand war. Hunger, Kälte, Schmutz und Alkoholgeruch gehörte zu ihrem Alltag. In Pănătău fanden Sie Wärme, Geborgenheit und Zuneigung. „Meist schickt uns die DGASPC (Generaldirektion für Sozialbetreuung und Kinderschutz) schwere Fälle aus anderen Heimen, weil sie wissen, dass unser Heim zuverlässig und sicher ist und wir uns in dieser kleinen Familie richtig gut um sie kümmern“ erklärt Cornelia. Als sie nach Rumänien zog, wurden die Kinder zu ihrer Familie. Sie schenkt ihnen die Liebe, die sie so sehr brauchen und freut sich weiterhin über die Umarmungen, mit der sie im Heim empfangen wird, sowie über den Kontakt zu ihren „Schützlingen“ die sie „ins Leben entlassen“ hat. „Die Liebe ist die Rettung für sie“ sagt Fischer mit einem offenen Lächeln, das ihr Gesicht zum Strahlen bringt.
Eine Sonne auf der Wand
Im Kinderheim duftet es angenehm. Heute Abend gibt es Auberginensalat und Makkaroni mit Käse. Einige Kinder helfen in der Küche, andere malen und basteln im Essraum. Das jüngste Mädchen, knapp vier Jahre alt, arbeitet konzentriert auf dem Teppich des Wohnzimmers an einem Puz-zle mit Prinzessinnen. Neben ihm sitzt ein Jugendlicher, der auf seinem Handy spielt, ein anderes Mädchen macht Hausaufgaben. Ein kleiner Junge klettert auf Stühlen herum und zeigt uns sein Können im Turnen, ein anderer geht noch nicht in die Schule, er kann aber seinen Namen mit Kreide an die Tafel schreiben. Ein Mädchen macht den Spagat. Dann zeigt sie uns ihr Zimmer. Es ist schön aufgeräumt. Auf einer Wand ist eine riesige Zeichnung mit einer Sonne angebracht.
Der Fernseher im Wohnzimmer ist mit einem Tuch bedeckt. „Nur zu bestimmten Zeiten dürfen sie Zeichentrickfilme gucken. Das ist viel besser so“, erklärt eine Erzieherin.
Das Personal arbeitet in Schichten, permanent ist ein Erwachsener im Haus. Viele Kinder sind mit ihren Geschwistern im Heim. Es gibt sogar vier Geschwister, die hier zusammen aufwachsen. „Es ist für die Kinder besonders wichtig, als leibliche Familienmitglieder zusammen zu sein. Sie haben einander und können das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Familie erleben“, meint Cornelia.
Soweit sie diese ausfindig machen können, bemüht sich der Verein Amurtel, Treffen zwischen Kindern und Eltern zu ermöglichen. Allerdings haben sich viele dieser Zusammenkommen aufgrund hoher Erwartungen seitens der Kleinen als Enttäuschungen erwiesen.
„Jede Bemühung lohnt sich“
Aufgrund frühkindlicher Vernachlässigung sind viele der Kinder lernbehindert, haben später geringe Chancen in der Arbeitswelt, so dass der Verein Amurtel ein Programm zur sozialen Integration der jungen Erwachsenen, die das Schutzsystem verlassen, gegründet hat. „Vistara“- das auf Sanskrit so viel wie Weiterwerden, Ausweitung bedeutet - bietet die Chance in der Transitionszeit Lebens- und Arbeitserfahrungen zu machen, die ihnen helfen sollen, mit kleinen Schritten Verantwortung zu übernehmen und Selbstvertrauen zu entwickeln. So können sie sich leichter in der Gesellschaft integrieren. Manche der ehemaligen Heimbewohner haben es geschafft, ein selbständiges Leben zu führen. Die meisten sind aus Pănătău weggezogen. Viele leben in Bukarest. In der Hauptstadt besitzt der Verein eine Wohnung, wo sie für eine Zeit bleiben können, bis sie sich eine Miete leisten können. „Bald werde ich 18. Dann will ich in einem Supermarkt in Bukarest arbeiten. Alle meine Freunde sind ja dort“, meint ein Junge aus dem Heim. Meist sind die jungen Leute als unqualifizierte Arbeitskraft tätig. Einige von ihnen haben Familien gegründet und versuchen, normale Leben zu führen. Cornelia hat zu den meisten den Kontakt aufrechterhalten.
Sie zeigt uns ein älteres Gruppenfoto, das im Flur hängt. Darauf sind lächelnde Jugendliche.
„Der arbeitet in Bukarest, der ist verheiratet, der hat ein Kind“, zeigt sie. „Für diese zwei Mädchen konnte ich gute Jobs in der Schweiz vermitteln. Sie haben dort Lehren absolviert und sind sehr geschätzt. Leider hat keines der Kinder studiert. Die schulischen Leistungen sind bei traumatisierten Jugendlichen leider schwächer. Es ist viel schwerer als bei Kindern, die in normalen Familien aufwachsen. Doch jede Bemühung lohnt sich“, meint Cornelia Fischer.
Hort und Bio-Garten
Auch nachdem sie die Leitung des Heims in jüngere Hände legte, ist die Schweizerin weiterhin bestrebt, den Kindern zu helfen. Und kümmert sich weiterhin um andere Projekte, die sie in der Gegend gestartet hat.
Seit 2006 gibt es in Pănătău einen Schülerhort. Hier erhalten die Schüler, die aus armen Verhältnissen kommen, ein warmes Mittagessen. Ihnen wird bei den Hausaufgaben geholfen und ihre Kreativität wird permanent gefördert.
Es wird viel Wert auf Kunst als Therapie und auf Bewegung in freier Luft gelegt. Ab und zu besuchen ausländische Freiwillige den Hort und erteilen den Kindern Fremdsprachenunterricht. Dass die Schüler die Schule beenden, ist für die Leitung des Horts eine Priorität, denn in dieser stark verarmten Gegend, wo der Grad des Alkoholismus und Analphabetismus sehr hoch ist, besteht große Gefahr von Schulabbruch. „Durch Erziehung können die Kinder der Armut entkommen“ erklärt Cornelia Fischer.
„Manche lernen hier mit Besteck zu essen, oder die Toilette zu benutzen, sind fasziniert vom Spülen des Klos“ erklärt eine Erzieherin.
Im Winter wird der Hort von vielen armen Kindern nur als Kantine benutzt, Zeit für Hausaufgaben bleibt nicht. Denn der Weg nach Hause, in eines der neun Dörfer die in den Bergen rund um Pănătău liegen, dauert manchmal über eine Stunde. Bei sehr schlechtem Wetter gibt es die Möglichkeit im Hort zu übernachten.
Nach dem Besuch im Hort fahren wir ins Nachbardorf Pătârlagele. 1993 konnte die Hilfsorganisation hier ein größeres Grundstück und ein Haus kaufen. Das Haus diente jahrelang als Ferienhaus für die Kinder vom Heim. „Später bauten wir auf dem großen Grundstück eine Gemüseproduktion auf, um Einnahmen für die Sozialprojekte zu schaffen. Es gibt sechs Treibhäuser. Manchmal arbeiten auch Jugendliche aus dem Heim hier. Das Gemüse ist bio und wird jede Woche nach Bukarest geliefert“, erklärt Cornelia. Zurzeit arbeiten zwei Frauen im Bio-Garten. Sie schenken uns je eine Tüte mit frischer Rucola.
Rösti, Massage und eine schöne Landschaft
Nachdem die erste Generation der Heimkinder volljährig geworden war, suchte Cornelia Fischer nach einer Möglichkeit, diese in den Berufsalltag zu integrieren. Daraus entstand die Idee, in Valea Lupului eine Pension zu bauen. Zusammen mit dem Schweizer Architekten Pierre Ruppaner, der bereits für verschiedene Hilfswerke in Rumänien tätig gewesen war, startete Fischer das Projekt. Im Sommer 2013 wurde der Betrieb aufgenommen. „Es sind meistens Touristen auf der Durchreise, die hier übernachten. Weil man aber im Fluss Buzău ganz gut River-Rafting machen kann, kommen an den Wochenenden viele Rafting-Gruppen zu uns. Oder wir beherbergen Arbeiter, die sich für verschiedene Bauprojekte in der Gegend befinden“, meint Fischer. In der Pension ist jedes Zimmer nach einer Stadt benannt - Bukarest, Luzern, Wien, Kalkutta - alle diese Städte waren wichtige Stationen im Leben von Cornelia. Die Zimmer mit Holzwänden sind schlicht, aber mit viel Aufmerksamkeit fürs Detail eingerichtet. Kunden können in die Sauna gehen, eine Massage machen - und auch eine sehr originell eingerichtete Bar gibt es im Erdgeschoß der Pension. Im Restaurant kann man neben den traditionellen rumänischen Gerichten auch Schweizer Rösti bestellen. Bei unserem Abendessen treffen wir den Architekten Ruppaner. Wie Cornelia Fischer ist er Anfang der 90er nach Rumänien gekommen - und hier geblieben. Eigentlich hätte er nach Guatemala gehen sollen, um für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten einen Einsatz nach einem Erdbeben zu leisten. Doch letztendlich nahm man einen anderen und Ruppaner wurde gefragt, ob er nicht daran interessiert wäre, in Rumänien ein Kinderheim aufzubauen. So kam er nach Pănătău. Heute lebt der 85-Jährige in Câmpina, doch er ist oft in der Pension, die er projektiert hat. Auch Studierende der Höheren Fachschule für Tourismus Luzern haben hier einen großen Verdienst: unter der Anleitung ihrer Dozenten entwickelten sie erfolgreich Konzepte für den Tourismus in der Umgebung und für die Pension, um deren Dienstleistungen zu optimieren. Doch es kann noch mehr getan werden, meint Cornelia Fischer.
Man könnte vom Tourismus leben
Ruppaner empfiehlt uns eine kurze Wanderung in der Umgebung. Alle Bäume blühen, die Hügel und Täler sind grün. Aus der Entfernung sehen die bunten, verstreuten Häuser wie kleine Streichholzschachteln aus. In der Nähe der Bahnlinien begegnet uns ein Mann. „Früher gab es hier ein paar Fabriken, alle hatten Arbeit. Heute ist es anders. Alle jungen Leute sind in Bukarest. In 50 Jahren wird es das Dorf nicht mehr geben“, meint er.
Doch der Tourismus würde die Gegend vor der Armut retten.
In der Nähe gibt es die Schlammvulkane bei Berca. Es sind Kegel im Boden, aus denen Erdgas, Schlamm und Ton nach oben befördert werden und so eine spektakuläre Mondlandschaft schaffen, die einzigartig in Rumänien ist und unter Naturschutz steht. In den Siriu-Bergen liegt in einer wilden und wunderschönen Gegend der Vulturului-See (See des Adlers), der viele Legenden verbirgt. Und Liebhaber von Extremsportarten können hier die besten Bedingungen für River-Rafting finden und mit einem Schlauchboot den Fluss Buzău befahren.
„Unsere Gegend ist touristisch interessant, aber noch nicht so gut erschlossen. Auf dem Fluss Buzău gibt es ein gutes Angebot für River-Rafting. Auf den Hügeln von Colți und Nucu haben früher Dutzende von Eremiten in den Höhlen gewohnt. Die Gegend wird auch „Der rumänische Athos“ genannt. Man kann diese faszinierenden Höhlen und Höhlenkirchen besuchen. In Colți wurde früher Bernstein abgebaut, es gibt dort auch ein Museum zu diesem Thema. Und auch die Schlamm-Vulkane befinden sich hier. Bildschön ist auch der Stausee von Siriu. Ausgeschilderte Wanderwege gibt es vor allem um Gura Teghii und Siriu herum. Jedoch möchte ich auch in unserer Gegend das Wandern promovieren“, meint Fischer. „Ich bin Schweizerin, ich brauche das Wandern“, fügt sie mit einem Zwinkern hinzu. Jetzt widmet sie ihre Zeit der Pension, versucht weiterhin Spender für ihre Projekte und Paten für die Kinder im Heim zu finden. Denn fast allein durch diese Finanzierungsformen konnte in den Jahren so vieles erreicht werden. Für ihr „selbstloses, außergewöhnliches und langjähriges Engagement“ wurde Cornelia Fischer 2013 mit dem Norgall-Preis ausgezeichnet, eine jährliche Prämie des „International Women’s Club“ aus Frankfurt. Doch die wichtigste Anerkennung ist die Liebe der Kinder aus dem Heim und der Dorfbewohner, die sie in ihre Mitte aufgenommen haben. Alle winken ihr begeistert zu, wenn sie mit ihrem Auto an ihnen vorbeifährt. Manchmal hält sie an und fragt: „Ce mai faci?“. Hier in Pănătău ist sie zu Hause.