Ein Mann im Altersheim stellt sich vor, er sei ein Punksänger, eine somalische Athletin ertrinkt auf ihrer Flucht nach Europa, eine türkische Familie in Österreich sieht sich gezwungen, einen Ehrenmord zu begehen, eine junge Künstlerin komponiert im Gefängnis einen Song, der weltberühmt wird, ein Religionslehrer wird zum Opfer einer seiner Schülerinnen, die Wände einer Wohnung in Istanbul sind Zeugen von drei tragischen Lebensgeschichten, vier Frauen aus Irland sperren sich in ihrer Wohnung ein und verhungern zu Tode, zwei lettische Brüder versuchen, nach dem Tod ihrer Mutter wieder zueinander zu finden. Es sind ganz verschiedene Geschichten, die in diesem Jahr unter dem thematischen Schwerpunkt „Rebellisches Theater“ auf der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden auf der Bühne zu sehen waren. 24 Produktionen aus 23 Ländern Europas wurden vom 19. bis zum 29. Juni am Staatstheater Wiesbaden und am Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt in Szene gesetzt. Es war die 12. und in dieser Form letzte Edition der von Manfred Beilharz 1992 ursprünglich in Bonn gegründeten Biennale, zurzeit das bedeutendste Festival für zeitgenössische Dramatik in Europa.
Im Mittelpunkt steht der Autor
„Neue Stücke aus Europa“ ist ein Festival, wo der Autor im Mittelpunkt steht. In den neunziger Jahren hat das Festival, das damals in Bonn stattfand, heute weltbekannte und übersetzte Dramatiker zum ersten Mal außerhalb ihrer jeweiligen Länder vorgestellt und dadurch zum Erfolg verholfen. Die künstlerische Leitung des Festivals wird von Theaterautoren aus 41 europäischen Ländern (die sogenannten „Paten“) in der Auswahl beraten. Die Biennale ist nicht nur eine Bühne für Aufführungen aus ganz Europa, sondern auch ein Arbeitstreffen für junge Künstler. Beim Forum Junger Autoren erarbeiten junge Dramatiker aus ganz Europa Texte, die am Ende des Festivals als szenische Entdeckungsreise präsentiert werden. Es gibt noch ein Forum junger Übersetzer und ein Forum für Dramaturgie.
Alles dreht sich um Theater
Als Teilnehmerin des Forums Junger Autoren hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit anderen 8 Autoren aus Kroatien, Polen, Schottland, Bosnien, Estland und England an einem englischsprachigen Workshop zu arbeiten, die zum Festival eingeladenen Produktionen zu besuchen und Erfahrungen auszutauschen. Am Vormittag Theaterstücke besprechen und diskutieren (sowohl fertige Stücke, die schon aufgeführt wurden, als auch Stücke an denen man noch arbeitet), am Nachmittag Stücke lesen oder an Diskussionen des Rahmenprogramms teilnehmen, abends in eine oder zwei Vorstellungen gehen und anschließend im Festivalzelt Ideen und Meinungen austauschen und bekannte Autoren zu treffen – elf Tage lang ging es nur um Theater, rund um die Uhr. Am vorletzten Tag stellten wir ein gemeinsames „Theaterstück“ unter dem Titel „Sounds like drama – here we go“ dem Publikum vor. Es bestand aus mehreren Teilen, an denen eine bis drei Personen gearbeitet hatte/n, und fand in zehn verschiedenen Orten am Theater statt. Das Publikum begab sich auf eine Entdeckungsreise und konnte im Aufzug, in den Probekabinen der Schauspieler, auf dem Dach des Theaters, im Foyer, im Hof und sogar in der Toilette 5 Minuten lange Aufführungen sehen. Dabei hatte man viel zu lernen - aus den Stücken und den Erfahrungen anderer, von den Treffen mit Theaterleuten, aus den hektischen Diskussionen nach jeder Aufführung und natürlich aus den Inszenierungen.
Über Liebe und Hoffnung
„Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Jöel Pommerat konnte man letztes Jahr auch in Rumänien, beim Internationalen Theaterfestival in Hermannstadt sehen. In 20 kurzen und sehr unterschiedlichen Episoden wird in der französischen Aufführung über die Liebe erzählt. Eine Ehe scheitert am Fehlen der Liebe, eine andere, weil Liebe allein nicht genügt. Vor dem Trauungssaal entdeckt eine Braut, dass ihr zukünftiger Ehemann auch mit ihren Schwestern zusammen war. Ein kinderloses Paar stellt einen Babysitter an. Ein Lehrer gerät in den Verdacht, seinen Schüler zu lieben. Zwei Nachbarn entdecken, dass ihre Partner sie betrügen. In seinem poetischen Reigen wurde der Autor Pommerat von den Werken Arthur Schnitzlers und den Filmen von Ingmar Bergman inspiriert. Die 20 Miniaturdramen zeigen wie die Liebe von den Menschen dauernd gesucht, aber nur sehr schwer gefunden wird. Obwohl 20 verschiedene Geschichten erzählt werden, vergehen die fast zweieinhalb Stunden der Aufführung wie im Flug- und mancher erkennt seine eigenen Geschichten auf der Bühne.
Ganz verschieden, aber auch über Liebe, diesmal die Liebe zur Musik, ist „Hoffnungslos verfallen“ von Kate Tempest. Das Stück, zu dem die Autorin durch einen Besuch in einem Frauengefängnis inspiriert wurde, erzählt die Geschichte der Gefangenen Chess, deren Talent von einer Musikproduzentin entdeckt wird. Chess schreibt ein Lied für ihre Tochter, zu der sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat. Ihre Freundin und Ex-Zellenkollegin veröffentlicht das Lied auf Facebook und kurz danach wird es zum Welthit. „Hoffnungslos verfallen“ stellt die Frage, an was man sich in Zeiten der völligen Hoffnungslosigkeit klammert. Für Chess ist es die Musik. „Hoffnungslos verfallen“ ist Theaterstück und Konzert zugleich. Die Musik für das Stück schrieb die Autorin zusammen mit dem Londoner Musikproduzent, Musiker und Songwriter Dan Carey.
Rumänische Aufführung mit Publikumserfolg
Rumänien wurde dieses Jahr durch das Theaterstück „Der Religionslehrer“ ( Profu’ de religie) von Mihaela Michailov, eine Aufführung des Nationaltheaters „Marin Sorescu“ in Craiova unter der Regie von Bobi Pricop, vertreten. „Der Religionslehrer“ war Preisträger des Wettbewerbs für Projekte junger Regisseure und Dramatiker. Im Stück geht es um einen Lehrer, der von einer Schülerin beschuldigt wird, sie unter dem Rock angefasst zu haben. Die Schülerin erzählt es einer Klassenkollegin, diese vertraut sich dem Klassenlehrer an, die Eltern werden alarmiert und die Medien rufen einen Skandal aus. Wahrheit ist aber relativ. Und die Wahrheit des einen ist nicht unbedingt auch die Wahrheit des anderen.
Die fünf Schauspieler erzählen die Geschichte aus allen möglichen Sichtpunkten und schlüpfen geschickt von einer Rolle in die andere. Zwischen den Szenen liest der Lehrer moralische Geschichten aus einem Religionsbuch für den Unterricht, das tatsächlich in den rumänischen Schulen verwendet wird. Ähnlich wie in Thomas Vinterbergs Film „Die Jagd“, geht es im rumänischen Stück um die katastrophale Wirkung einer Lüge, die so schrecklich ist, dass jeder sie nur für die Wahrheit halten kann. In Wiesbaden war die Aufführung erfolgreich und erhielt den 2. Platz beim Publikumspreis.
Ernste Themen mit Humor behandelt
Mit „Habe die Ehre“ schrieb der aus Syrien stammende und in Wien lebende junge Autor Ibrahim Amir eine Komödie zum Thema Ehrenmord. Eine türkische Tochter, die ihren Ehemann betrogen hat und nun gefesselt im Schlafzimmer liegt, der Vater und der Ehemann, die sich darüber streiten, wer sie erschießen soll, die Mutter, die ihr helfen will, sich zu verstecken, der Bruder, der sich aus der ganzen Sache heraushalten will, zwei Wiener Polizisten und ein totgeglaubter Liebhaber, der plötzlich im Wohnzimmer erscheint, viele Klischees und dazu noch eine bizarre Begebenheit aus einem Lokal, die wie ein Tarantino-Film klingt – Ibrahim Amir gelang es, sich auf sarkastisch-ironische Weise der Absurdität des ernsten Themas „Ehrenmord“ zu nähern. Die Aufführung wirkte nach so vielen ernsten Shows wie ein Hauch frischer Luft.
Sich auf komische Weise eines ernsten Themas zu nähern gelang auch Clara Guimaraes (Spanien) mit „Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde“. Es ist die wahre Geschichte der somalischen Sprinterin Samia Yusuf Omar, die 2008 bei der Olympiade in Peking als Letzte ans Ziel kam und die Sympathie des Publikums gewann. Ihr Foto ging damals um die ganze Welt. Vier Jahre später ertrank die junge Frau mit einem überfüllten Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Sie wollte nach Europa, um für die Olympiade in London zu trainieren. Carla Guimaraes wurde auf das Thema neugierig als sie die Nachricht von dem Tod der Athletin in einer Zeitung las. Und schrieb eine witzige, energievolle und einfühlsame Komödie. „Zurückliegende tragische Ereignisse können durch die Brille der Komödie neu gesehen werden“, erklärt Carla Guimaraes. „Es war nicht unser Ziel, über Samia zu lachen, sondern uns in ihre Haut zu versetzen und ihr Drama mit der gleichen Ironie mitzuerleben, mit der wir auch unser eigenes Unglück erleben.“ Mit nur sechs Schauspielern die verschiedene Rollen übernahmen und einem Bühnenbild das nur aus sechs Stühlen bestand, gelang es der Regisseurin Maria Folguera eine Aufführung zu gestalten, die die Herzen des Publikums eroberte.
Die Biennale geht weiter
2014 war die letzte Ausgabe in dieser Form der Theaterbiennale in Wiesbaden. Ihr Gründer, Manfred Beilharz, verlässt diesen Sommer das Staatstheater Wiesbaden und übergibt dessen Leitung an Uwe Eric Laufenberg, den früheren Intendanten der Oper Köln. Der neue Intendant gab in einer Pressekonferenz bekannt, dass das Festival auch 2016 stattfinden wird – jedoch mit einem neuen Konzept. Europa wird weiter im Mittelpunkt stehen, aber künftig werden nur noch Autoren aus bis zu acht Ländern ihre Produktionen vorstellen.