Um 10.37 Uhr drängle ich mich in den Bus Richtung Stadtzentrum. Die Sonne brezelt durch die Fenster, die Männer trinken Bier aus Dosen, junge Mädchen Energydrinks aus Plastikflaschen, Kleinkinder krabbeln auf den Schößen ihrer Eltern, die einen Sitzplatz erwischt haben. Es herrscht beste Stimmung. Jemand in der letzten Reihe ruft etwas, jemand vorne im Bus antwortet, alle lachen. Ich stehe mittendrin, in Winterjacke und Schal, und halte die Arme in die Höhe, weil unterhalb meiner Schultern kein Platz mehr für sie ist. Ich schwitze. Woher wissen alle Menschen auf der Welt immer so genau, wie sie sich anziehen müssen? Gestern war es grausam kalt, in der Nacht lag ich bibbernd im Bett, doch heute bin ich der einzige, der nicht in T-Shirt und kurzer Hose im Bus steht. Meine Gedanken werden abgelenkt von Fingern an meinem Oberschenkel. Ich drehe mich, um die Hosentasche mit meinem Geldbeutel möglichst weit von den Fingern zu entfernen.
Immer der Menge nach
Um zehn nach elf steige ich an der Postwiese aus. Meine Stimmung könnte nicht besser sein: Ich kann mich wieder bewegen, atme frische Luft und mein Geldbeutel steckt noch in der Hosentasche. Außerdem sehe ich, dass sich auf beiden Seiten der Klostergasse und des Rudolfrings Menschen drängen – meine Sorge, nicht zu wissen, wohin ich zu gehen hätte, und die Parade darum zu verpassen, erweist sich als unbegründet. Ich stelle mich an den Kreisverkehr, hinter eine Familie. Ich höre Kindergeschrei, Erwachsenenlachen, Motorengedröhne. Es stinkt nach Abgasen. Vor mir streiten zwei Grundschuljungen um eine leere Kaugummiverpackung. Plötzlich treten drei Verkehrspolizisten in grellgelben Signaljacken auf den Kreisverkehr und leiten die Autos um. Als kein Auto mehr kommt, sperren sie die Straße. Auf diesen Moment haben alle gewartet: Klein und groß, jung und alt sprinten los, auf die tulpenbewachsene Insel im Kreisverkehr. Einen Augenblick bleibe ich verdattert stehen, Notizblock in der linken und Kugelschreiber in der rechten Hand. Dann schnappe ich meine Tasche und spurte hinterher.
Poliţia und Gendarmen
Wieder stehe ich hinter einer Familie. Ein Mädchen sitzt auf den Schultern seiner Mutter. Vater und Bruder blicken, wie ich, in die Klostergasse, wo links und rechts der Menschenmenge auf den Wegen mittlerweile kein Durchkommen mehr ist. Es ist halb zwölf. Verglichen mit der Volksfeststimmung im Bus herrscht auf dem Kreisverkehr eine Atmosphäre angespannten Wartens. Die Zuschauer legen die Stirn in Falten, verziehen den Mund und kneifen die Augen zusammen; vielleicht wegen der Sonne, vielleicht wegen des langen Stehens, vielleicht wegen des Gedränges in der Masse. Nur die Verkehrspolizisten sind bester Laune. Sie machen sogar Scherze mit den grimmigen Gendarmen, die mit ihren dunkelblauen Uniformen, Sonnenbrillen, Headsets und Basecaps wie die Bad-Cops aus Hollywoodfilmen wirken – und jeden Scherz erzcool ignorieren. Die Polizisten gickern trotzdem. Und die Wartenden zücken ihre Smartphones: Aus der Klostergasse schallt Blasmusik.
Ausraster und Kunststücke
Es gibt keine kleinen Fotoapparate mehr. Wer nicht mit Smartphone fotografiert, fotografiert mit einer digitalen Spiegelreflexkamera mit Wechselobjektiv. Der Familienvater vor mir und die aus dem Nichts aufgetauchten jungen Männer neben ihm halten Smartphones in die Luft - was es mir jetzt und in der Folge schwer macht, ein ordentliches Foto zu schießen. (Ordentlich in dem Sinn, dass nicht zumindest eine Ecke oder Kante eines ihrer Samsungs unten in das Foto wächst.) Die Blaskapelle spielt verschiedene Schlager und lässt einen in den anderen übergehen. Sie marschiert dicht hinter einem Polizeiauto, dessen Blau-Rot-Licht so eifrig blinkt, als wolle es die Lichteffekte zur Blasmusik liefern. Die irren Lichtwechsel verdeutlichen die stoische Unerschütterlichkeit, mit der die Bläser ihren Takt halten. „Oh, when the saints” spielen sie würdevoll getragen, während ihre Gesichter hektisch rot-blau blinken.
Hinter der Kapelle klackt der Höhepunkt der Parade: die Reiter. Auf buntgeschmückten Pferden sitzen buntgeschmückte Männer, jung und alt. Die Pferde wiehern laut und schon passiert es: Eines der vordersten Pferde, ein großes, graues, reißt die Vorderbeine hoch und stellt sich aufrecht auf seine zwei Hinterbeine. Der Reiter rutscht nach hinten und klammert sich an die Zügel. Das Pferd fällt zurück auf die Vorderbeine, der Reiter hebt kurz von seinem Sattel ab, landet und atmet tief durch. Die Zuschauer um mich herum rufen Bravo, klatschen strahlen; endlich geht die Gaudi los! Ich bin fassungslos. Sind all die Leute gekommen, um Reitunfälle zu bejohlen? Mit ihren Kindern?! Ist das hier eine Art Rodeo? In diesem Moment stellt sich das selbe graue Pferd ein weiteres Mal auf die Hinterbeine. Wieder hält sich der Reiter auf dem Sattel, dann dreht er sich zu uns um - und schaut uns applausheischend an. Nun verstehe ich: Das war gar kein Ausraster, das war ein Kunststück.
Eroberung und Ostern
Noch manchen Aufreger gibt es auf der Parade – ob gewollt oder ungewollt, kann ich jeweils nur mithilfe der Zuschauerreaktion deuten: Applaus und Bravorufe bedeuten Kunststück; Frauen, die die Hand auf Mund oder Brust legen und Männer, die erst erstarren und dann lachen, bedeuten Ausraster. Den eindeutigsten Ausraster zeigt ein blondes Pony mit einem jungen Reiter auf dem Rücken. Müde trottet es zu den Zuschauerreihen, als wolle es sich streicheln lassen. Doch sobald die Zuschauer in Streichelweite sind, dreht es sich um und schlägt ruckartig nach hinten aus.
Dabei verfehlt es eine ältere Frau und ein kleines Mädchen nur knapp. Am nächsten Tag höre ich, dass ein nach hinten austretendes Pferd ein Mädchen verletzt hat. Möglich, dass es das hellbraune Pony mit dem jungen Junii-Reiter war. Ich jedoch bekomme an jenem Sonntag nach Ostern keinen Unfall mit; entsprechend fröhlich bejubelt das Publikum die Reiter die störrische Pferde wieder unter Kontrolle bringen. Und ruft kräftig: Die Junii-Reiter verkünden, Jesus ist auferstanden, die Zuschauer antworten, er ist wahrhaftig auferstanden. Die Osterbotschaft verwirrt mich: Ein Bekannter erzählte mir, der Grund des Festes sei, außer dem vorangegangenen Ostersonntag auch mit der Stadtgeschichte in Verbindung zu bringen. Die Rumänen durften früher das Stadtzentrum nicht betreten, ihre Reiterparade symbolisiere eine Art „Eroberungsmarsch” durch die Innenstadt. Aber warum rufen sie auf diesem Marsch, Jesus sei auferstanden?
Miteinander Schlemmen
Vielleicht erfahre ich die Antwort auf dem Salomon-Felsen. Den Weg dorthin findet man, indem man der Spur aus Pferdeäpfeln folgt - oder dem Strom der Menschen. Wir durchqueren die obere Vorstadt/Schei, und gehen Richtung Wald. Am Salomon-Felsen trifft die Menge, mit der ich komme, auf die Menge, die schon da ist, wodurch eine Mega-Menge entsteht, der jede weitere Bewegung schwer- bis unmöglich fällt. Ich quetsche mich durch die träge Masse, zu einem Spalier aus Zelten, das das Zentrum des Festes zu bilden scheint. Hier werden Bier, gegrilltes Fleisch und Süßwaren feilgeboten. Männer, Frauen, Kinder tragen Teller voller Mici, Fünfjährige tauchen ihre Gesichter in Zuckerwatte, Männer mit roten Köpfen schleppen Papphalterungen mit Plastikbechern schwappenden Bieres. Die Bänke in den Zelten sind vollbesetzt mit Schlemmenden, die Mülleimer quellen über, Toiletten sehe ich keine.
Das Leben ist schwer, aber sich freuen ist leicht
Mit den Zelten endet das wuslige Gedränge. Ich überquere auf einer improvisierten Brücke einen fast ausgetrockneten Bach. Auf der anderen Seite des Bächleins steht eine kleine schwarze Bühne mit großen schwarzen Boxen, aus denen Folkloremusik dröhnt. Der Sänger singt melancholisch über dem süßlichen Gedudel eines mir unbekannten Blasinstruments. Vor der Bühne tanzen Seniorinnen und Senioren im Kreis. Sie halten sich an den Händen, hüpfen, klatschen, singen mit, als wäre die Schwere des Lebens für sie nicht mehr als eine ferne Erinnerung. Unwillkürlich werde ich wehmütig. Ich sehe mich um: Tanzen, Grillen, Lachen, Reden, Schreien, Umarmen. Ich bin offensichtlich der einzige, der alleine hier ist. Hier stehe ich, abseits des Festes, mit Winterjacke, in alle Richtungen stehenden Haaren, struppigem Zwölf-Tage-Bart, und kritzle schwitzend in ein Notizbuch – während ich grüble, wie es mir gelänge, den gleichen Zustand zu erreichen wie alle um mich herum. Dieses Gefühl, es gäbe keine Sorgen, ja nicht einmal ein Morgen, in diesem Tal im Wald voller Fleisch- und Bierschwaden, auf das die Sonne brennt. Dieses intuitive Wissen, das Leben sei schwer – aber jetzt und hier unbeschreiblich leicht.
Wer feiern will, muss warten können
Ich stelle mich in eine Schlange, um Mici zu essen. Ich habe zwar keinen Hunger, aber Mici sind klein, zwei oder drei Stück schaffe ich schon, zum Probieren. Außerdem steht man lange; vielleicht kommt der Hunger beim Warten. Die Festbesucher weilen geduldig in der Schlange, abgesehen von jenen Schlaumeiern, die unvermittelt neben mir auftauchen und im nächsten Moment schon vor mir stehen. Diejenigen, die nicht drängeln, gucken zwar genervt, sind aber, glaube ich, glücklich: Sie sind auf einem Fest mit ihren Liebsten und wenn sie erst ihre Mici haben, geht das große Feiern los.
Hungriger werde ich allerdings nicht. Was auch daran liegt, dass ich sehr lange direkt neben dem Grill stehe und sehe, in welchem Zustand die Mici auf die Teller verladen werden: Rosa, ja rötlich, fast so rot wie roh, und wenn die Bedienung zögert, weil die Würstchen ihr gar zu roh scheinen, winkt der Grillmeister lässig ab, mit einem Gesichtsausdruck der sagt: Passt schon, wen kümmerts? Mein Magen warnt mich, diese Mici zu essen. Aber natürlich kann ich nach zwanzig Minuten Warten die Schlange nicht mehr verlassen. Zwanzig nutzlos verwartete Minuten sind schlimmer als ein bisschen Bauchweh. Außerdem benebelt das Schlangestehen im Grillrauch offenbar meine Vernunft, denn plötzlich folgen meine Gedanken einer neuen Logik; einer seltsamen, tollkühnen, nach der drei Mici der Wartezeit unangemessen sind. Mindestens vier, nein fünf müsse essen, wer eine halbe Stunde schlangestand! So absurd scheint mir die Frage, wie viele Mici ich tatsächlich essen könne, dass ich sie mir gar nicht mehr stelle.
Zu viel
Als ein Platz am Tresen frei wird und die Bedienung mich erwartungsfroh ansieht, bestelle ich fünf Mici, indem ich ihr meine rechte Hand zeige, alle Finger strecke und „Mitsch“ sage. Sie nickt, schnappt sich einen Pappteller, geht zum Grill und bringt mir sechs. Verwirrt bezahle ich sechseinhalb, balanciere den Teller voller Mici, Weißbrot und Senf weg vom Tresen und stelle mich an einen sonnigen Platz außerhalb des Zeltgedränges. Nach drei Mici ist mir schlecht. Ich verfluche die Grillrauch-Logik, und halte Ausschau nach einem Hund. Da ich keinen finde, schleiche ich um die Mülleimer herum, sehe mich verdächtig oft um und lege den Teller schließlich im Vorbeigehen auf einen Müllberg, der aus einer Plastiktüte quillt. Zu meiner Überraschung kommt mir niemand nachgerannt, um mich anzubrüllen, die guten Mici aufzuessen.
Beruhigt mische ich mich unter die Menge. Ich kaufe ein Bier und den ersten kandierten Apfel meines Lebens – um den Mici-Geschmack aus meinem Mund zu kriegen, und wegen des Preises. In Deutschland kosten kandierte Äpfel 2,50 Euro; bei 3 Lei hieß mir Nicht-Kaufen Torheit. Den Apfel in der einen, den Becher klirrend kalten Bieres in der anderen Hand, trotte ich im Sonnenlicht nach Hause. Und überlege, was ich schreiben werde über das Kronstädter Stadtfest. Habe ich herausgefunden, worum es geht? Um die „Eroberung” Kronstadts? Die Auferstehung Jesu? Die Feier des Miteinanders? Ja, denke ich, das ist es: In Schlemmen, Rausch, Musik scheint auf, dass alle Menschen zusammengehören. So unterschiedlich sie sind, es gibt Möglichkeiten, sie zu verbinden. Das Kronstädter Stadtfest kombiniert ein paar davon: Glaube, Spektakel, Fleisch, Bier und Gesang.