Ein warmer Vormittag Anfang August. Im Garten der Familie Csakli-Morar aus Keisd ist viel los. An einem Tisch sitzt ein französisches Ehepaar. Die beiden trinken hausgemachte Limo und Kaffee. Sie sind zum ersten Mal in Rumänien, erzählen sie. „Siebenbürgen ist anders als der Süden oder als die Moldau. Als wären es zwei verschiedene Länder,“ meint die Frau. Ihr Vater stammt aus Vaslui, auf dieser Reise will sie das Land ihrer Vorfahren entdecken. Auf ihrer Kamera zeigt sie uns ein Foto vom ehemaligen Haus des Vaters – ein Gebäude, das einmal sehr imposant war.
Jetzt ist es nur ein Phantom des Hauses, das es einmal war. Das Dorf, wo es steht, ist fast leer – alle jungen Leute leben jetzt in Großstädten oder im Ausland. Das ist ein großes Problem in vielen Dörfern Rumäniens.
Hier in Keisd ist es umgekehrt. Ein paar junge Leute haben beschlossen, die Großstädte zu verlassen, ihre gut bezahlten Jobs zu kündigen und auf dem Land zu leben – in den Häusern, die sie von ihren Großeltern geerbt haben. Die meisten haben in diesen Häusern Pensionen eröffnet. Keisd erlebt einen Aufschwung. Sogar Prinz Charles machte Werbung für das 2000-Einwohner-Dorf im Kreis Mure{, 20 Kilometer von Schäßburg entfernt.
Bald gesellen sich auch andere Touristen in den Garten, trinken Limo und plaudern miteinander. Manche sind auf der Durchreise, andere besuchen die Haferlandwoche.
Die beliebte Veranstaltungsreihe, die den siebenbürgisch-säschsischen Traditionen gewidmet ist und dessen sechste Auflage in den Dörfern aus der Repser Gegend gerade gestartet ist, steht in diesem Jahr im Zeichen der Kunsthandwerke. In Keisd wird Handwerk großgeschrieben und auf Traditionen wird viel Wert gelegt. Keramik wird produziert, Marmelade wird hergestellt, Trachten werden genäht, immer wieder öffnen neue Pensionen ihre Pforten. Einerseits nimmt sich die Haferlandwoche vor, Kultur und Traditionen der Siebenbürger Sachsen vorzustellen, andererseits ist ihr Ziel, den Touristen die noch unentdeckte Schönheit dieser Gegend zu zeigen: grüne Hügel, bunte Häuser, stolze Kirchenburgen, gastfreundliche Leute und gesundes Essen.
Seit 1999 sind die Kirche, die Burg und einige Häuser aus dem Dorf Teil des UNESCO-Kulturerbes. Doch noch nie war Keisd so gut besucht wie in diesem Jahr. Und die Zukunft sieht noch besser aus.
Das Marmeladendorf
Wenn man auf der Hauptstraße E60 von Kronstadt Richtung Schäßburg fährt, erscheint er plötzlich hinter einer Kurve: ein imposanter Kirchturm in einer ganz besonderen Form, der dem Stundturm aus Schäßburg zum Verwechseln ähnlich sieht. Der Bus, der zwischen Kronstadt und Neumarkt verkehrt, hält im Zentrum an, gegenüber vom Touristenbüro. Hier wird deutsch gesprochen, auf den Regalen findet man dunkelblaue Teller und Tassen, Marmeladen und Konfitüren aller möglichen Sorten und verschiedene Reiseführer über die Gegend.
Was diese Marmeladen so besonders macht, sind die vielen interessanten Sorten, denen man kaum widerstehen kann: Rhabarber mit Ingwer, Holunder mit Zitrone, Sauerkirschen, Milchkonfitüre. Wenn man die Informationen auf den Etiketten liest, stellt man verblüfft fest, dass es sogar zwei Marken gibt, die in Keisd hergestellt werden.
„Als die Leute unsere Produkte getestet haben, gab es ein und dieselbe Reaktion: das schmeckt wie bei Großmutter!“ – so stellt sich das Kleinunternehmen „Pivni]a bunicii“ (deutsch: Großmutters Keller) auf seiner Webseite vor. Hier werden vor allem Marmeladen- und Honigsortimente, aber auch verschiedene Sirupe hergestellt, alle aus natürlichen Zutaten. In der Gegend von Keisd, wo es wilde Blumen, uralte Eichen und unendliche Wälder gibt, schmecken die Lebensmittel, Früchte und Gemüse noch so wie zu Großmutters Zeiten.
Auch mehrere Cocktails mit Zutaten aus Keisd werden auf der Webseite von „Pivni]a bunicii“ angeboten. Darunter der Cocktail Dracula’s Kiss (Draculas Kuss) aus 50 Milliliter Gin, 6 frischen Himbeeren, 25 Milliliter hausgemachtem Himbeersaft aus Keisd, 10 Milliliter Eiweiß und 30 Milliliter Limonade. Alle Zutaten werden in einem Blender gemixt, man fügt ein paar Eiswürfel hinzu und schüttet alles in ein Cocktail-Glas. Eine andere “Spezialität des Hauses” sind die Chutneys. Das sind süß-sauer eingekochte, würzige oder auch scharf-pikante Saucen mit musartiger Konsistenz. Sie stammen ursprünglich aus Indien, wo sie zu jeder Mahlzeit frisch zubereitet wurden. Die Engländer brachten die Chutneys während der Kolonialzeit nach Europa.
Das andere Kleinunternehmen, das Marmeladen herstellt, heisst “Casa de pe deal” (deutsch: Das Haus auf dem Hügel). Inhaber sind ein Franzose und eine Rumänin. Vor ein paar Jahren haben sie beschlossen, in ein Haus aus Keisd zu ziehen, das die Frau geerbt hatte. Ihre beliebtesten Produkte sind Melonenmarmelade, Milch- und Kaffeekonfitüre.
Jahre bevor diese erfolgreichen Geschäfte in Keisd starteten, gab es hier schon eine Tradition der Herstellung von Marmelade. Im Jahr 2007 verkauften die Dorfbewohner schon Rhabarbermarmelade auf internationalen Messen. Damals besuchte kaum ein Tourist die Ortschaft.
Jetzt steigt die Touristenanzahl von Jahr zu Jahr. Der wohl prominenteste Besucher des Dorfes ist Prinz Charles. Vor ein paar Jahren ist auch er den Hügel zur Burg hinaufgestiegen, um die Mauern zu sehen, die im Jahr 1347 errichtet wurden. Dabei hat er das riesige touristische Potential des Dorfes entdeckt.
Brunch mit Rhabarberkuchen, laute Schlager und blaue Keramik
Im Büro der Adept-Stiftung wundert man sich, dass es so viele Projekte zum Erhalt von Biodiversität und traditioneller Landwirtschaft gibt. Auch für Touristen bieten sich zahlreiche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Sie können die Gegend auf dem Fahrrad oder auf dem Pferdesattel erkunden, Wanderungen unterneh men, mit einer Draisine fahren, die vielen Tierarten entdecken, die unter Naturschutz stehen, Kirchenburgen besichtigen, lokale Spezialitäten kosten und interessante Leute kennenlernen.
Um 12 Uhr beginnt im Hof der Adept-Stiftung ein musikalischer Brunch. Schinken mit Zwiebeln, Schafskäse, Gulasch vom Kessel, frisches Gemüse, Rhabarber-Kuchen, Holundersaft mit Mineralwasser, hausgemachtes Brot – man hat die Gelegenheit, Spezialitäten aus der Gegend zu kosten und unter einem Apfelbaum zu essen. Dazu gibt es Blasmusik.
Leider dröhnen die ganze Zeit deutsche Schlager aus zwei Lautsprechern, die unter einem Schirm am Straßenrand angebracht sind. So laut, dass man sich kaum verstehen kann.
An anderen Ständen kann man Pfannkuchen mit Keisd-Marmelade kosten, an einem Nähworkshop teilnehmen und in einer Töpferwerkstatt sehen, wie ein Krug entsteht.
Der Töpfer Marinel Gyorfi weiht ein paar Kinder in die Geheimnisse dieses Handwerks ein.
Die Stiftung Adept hat ihm seine Ausbildung in Großbritannien bezahlt. Nun ist er täglich in der Werkstatt und stellt Teller, Vasen und Töpfe her. Bei den meisten handelt es sich um Bestellungen von Kunden aus dem Ausland. „Alle meine Freunde wollen in Westeuropa arbeiten, dort verdienen sie zehnmal mehr wie hier. Ich glaube, wenn alle hier bleiben würden, um hier zu arbeiten, dann würden auch die Löhne steigen“, erklärt er. Die Töpferwerkstatt der Adept-Stiftung wurde vor drei Jahren eingeweiht. Hier wird die typische Keisder Keramik – filigrane weiße Motive auf kobaltblauem Grund – originalgetreu reproduziert und zum Verkauf angeboten.
Die Burg wird renoviert
Ein Anziehungspunkt für Touristen ist auch die Stephanskirche, die 1493-1503 auf den Mauern einer im gotischen Stil gebauten älteren Kirche errichtet wurde. Um auch bei Überraschungsangriffen, wenn die Burg nicht mehr zu erreichen war, gewappnet zu sein, wurden Kirche und Turm als Wehrkirche ausgebaut. Von den Pfarrern, die hier gepredigt haben, wurden sieben, davon zwei gebürtige Keisder, ins Bischofsamt gewählt. In Keisd sollen insgesamt sieben Kirchen und Kapellen gestanden haben, davon sind heute außer der Stephanskirche vier nachweisbar.
Im Inneren befindet sich eine Orgel, die 1788 aus Kronstadt gebracht wurde. In diesem Sommer hat hier eine Konzertreihe stattgefunden. Leider kann man zur Zeit nicht über das Gewölbe der Kirche aufsteigen und Zugang zu den Schießscharten und Pechnasen haben, von wo einst die Verteidigung erfolgte. Auch am Turm müssen Reparaturarbeiten vorgenommen werden.
Die laute Musik scheucht uns aus dem Dorfzentrum und wir beschließen, einen Spaziergang zur Keisder Burg zu unternehmen. Knapp 20 Minuten dauert der Aufstieg, und man kann sich nicht sattsehen an der Landschaft. Oben angekommen liegt uns das ganze Tal zu Füßen. Hinter Bäumen und Hügeln schauen die Häuser und der stolze Kirchturm hervor. Die Keisder Burg ist eine der bedeutendsten Bauernburgen Siebenbürgens und wurde um 1343 südwestlich vom Ort auf dem Burgberg errichtet. Der Standort bot einen guten Über blick: herannahende Feinde oder Feuer konnten sofort im Ort gemeldet werden. Vorläufig sind es nur Ruinen, mit Gras bewachsen.
Doch es gibt eine gute Nachricht: die Lokalbehörden haben es geschafft, fast 8,5 Millionen Lei aus EU-Geldern für die Renovierung der Burg zu erhalten. Und nicht nur diese Initiative war erfolgreich. Mehrere junge Leute haben die Häuser ihrer Vorfahren aus EU-Geldern renoviert und in traditionelle Gästehäuser umgewandelt. Das Interesse für touristische Investitionen ist in dieser Gegend enorm gestiegen.
Tei- das Limonadenhaus
Zurück im Dorf angekommen, kehren wir erneut in den Hof der Familie Csakli-Morar ein. Die junge Familie hat hier seit wenigen Wochen eine Art Cafe mit Terrasse eröffnet.
Das Tor steht offen und scheint den Eintritt in eine andere Welt zu vermitteln, denn sobald man im Hof steht spürt man die Wärme und Liebe mit der dieser Ort eingerichtet wurde.
Alles ist gepflegt: die Blumenbeete, die Hecken, der Gemüsegarten, aber auch der Holzhaufen vor der Scheune, oder die Holztreppen, die hinter dem Haus hinunter zu einem Bach führen.
Eine Vase mit frischen Blumen und herrlich duftendes Obst aus dem Garten stehen auf einem Tisch draußen, darunter schlafen im Halbschatten zwei Katzenjungen ungestört. Es herrscht Ruhe und es tut so gut, bei frischer Luft eine der leckersten Limonaden dieses Sommers zu genießen und sich mit den freundlichen und gesprächigen Inhabern zu unterhalten. Im Hof knetet die Großmutter Teig – sie hat vor, Hanklich zu backen. Das Kleinkind der Familie spielt in der warmen Sonne.
Inzwischen hat sich der Hof mit Touristen gefüllt. Sie bestellen hausgemachte Limo, Lavendelsirup, Kaffee oder Tee, kosten den warmen Kuchen und unterhalten sich miteinander, als ob sie sich seit Ewigkeiten kennen würden. In dieser Atmosphäre fühlt man sich wie zu Hause.
Das ist vor allem Hadrian Morar und seiner Frau, Marianne Csakli, ehemalige Absolventin des Pädagogischen Lyzeums aus Hermannstadt zu verdanken, die die letzten drei Jahre am Haus Nummer 302 aus Keisd, an der Terrasse und an der kleinen schicken Bar gearbeitet haben. Für ihren Traum haben sie das gemütliche Leben in der Stadt aufgegeben.
Der Wunsch, ein eigenes Teehaus auf dem Land zu besitzen, verfolgt sie, seitdem sie in England gearbeitet haben. „Hier bist du frei, hier hast du einen Garten, hier hast du Tiere”, erzählt Hadrian Morar, der in einem Haus aufgewachsen ist und niemals in einer Plattenbauwohnung leben könnte. Er spricht mit so viel Freude über das Leben auf dem Dorf, dass es fast ansteckend wirkt. In Keisd kann er seine Bienen züchten und mit dem leckeren Honig die Limonaden versüßen, das Land bearbeiten, köstliches Bio-Gemüse ernten. Das scheint ihm auszureichen. Marianne, die unter der Woche nach Schäßburg pendelt, wo sie als Grundschullehrerin arbeitet, lächelt auch breit, wenn sie über ihr neues Leben erzählt. Er ist glücklich, dass er hier lebt.
Falls man sich auf der Durchreise befindet, sollte man unbedingt anhalten. Wer weiß, vielleicht wird Keisd das nächste Ferienziel sein.