22.11.1988
Es gibt Menschen, die darum an ihrem Geburtsort hängen weil sie in ihrem Leben keine andern Städte oder Dörfer näher kennengelernt haben und glauben, nirgends in der Welt sei es besser als bei ihnen daheim.
ER gehörte nicht zu diesen, denn er hatte mehrere Länder bereist und zahlreiche Städte besichtigt. An vielen hing ER mit Liebe und dachte gern an all das Schöne zurück, was ER während seiner Fahrten bewundert hatte. So war er sich im Klaren, dass seine Stadt einen bescheidenen Platz auf dem europäischen Kontinent einnahm. Sie mit Paris, deren Erhabenheit und Glanz, zu vergleichen, war geradewegs lächerlich. Seine Stadt besaß nichts von dem bürgerlichen Reichtum, der Lyon so selbstsicher scheinen lässt.
Sie hatte nichts von der künstlerischen Üppigkeit Venedigs. Zwar lag sie zwischen Bergen, doch wurde sie nicht wie Zürich, täglich vom schneebedeckten „Pilatus“ begrüßt. Sie war durch ihr bedeutendstes Baudenkmal, der „Schwarzen Kirche’“, wohl sehenswürdig, doch der Turm glich nicht dem Spitzenwerk des Freiburger Münsters.
Auch in seiner Stadt erhob sich ein Hügel, den man zwar „Schlossberg“ nannte, doch der Bau, der ihn beherrschte, war nicht von der ehrfurchtgebietenden Wucht der kaiserlichen Burg Nürnbergs. Seine Stadt rühmte sich mit einer Universität, doch fehlte ihr die geistige Atmosphäre, die Heidelberg wie ein Glorienschein umgibt. In der Bildergalerie der Stadt gab es so manche Kunstwerke, doch wie ärmlich war sie neben der Gemäldegalerie des Leipziger Zwingers.
Wenn ER seinen Freunden über seine Reiseeindrücke sprach und die Pracht verschiedener Ortschaften pries, vergaß ER aber nie zu erwähnen, dass wenige Städte so viele schöne Ausflugsorte besitzen wie seine Heimatstadt. Zuletzt betonte ER jedesmal, dass ihm sein Geburtsort der liebste Platz auf Erden sei. Gewöhnlich fügte er witzig hinzu: „Meine Frau, zum Beispiel ist bei weitem nicht die schönste weibliche Person, die ich je gesehen habe. Viele andere gefielen mir, doch ich hätte keine mit meiner Gattin ausgetauscht. Sie gehört zu mir, sie ist ein Stückchen von mir, gerade so wie meine Stadt!“
Wenn ER in seinem Familienkreis über die besichtigten Ortschaften redete, beendigte ER seine begeisterten Beschreibungen mit einer andern Schlussfolgerung, um so seiner Frau ja nur nicht weh zu tun: „Wie herrlich es auch anderswo sein möge, ich kann nur hier leben, denn unsere Stadt passt zu mir, wie der Anzug, den mir der Schneider nach meinem Maß verfertigt hat.“
ER kannte seine Stadt mit all ihren Alleen, Straßen, Gässchen, Stegen und Wegen, Gängen und Ecken. ER musste seinen Kopf nicht in die Höhe heben, denn ER wusste genau, welche Zierden die verschiedenen Gebäude schmückten. So sah ER zum Beispiel im Geiste wie die schwarz-weiße Figurenmalerei den obersten Teil der alten Präfektur umkränzte.
ER musste sich nicht nach rechts oder links wenden, um zu wissen, welche Häuser die Straße säumten. Mit geschlossenen Augen hätte er genau bestimmen können, dass neben IHM das Familienhaus der Familie Knopp stand, auf dessen Giebel zwei mächtige Wetterhähne ihre Köpfe in die Höhe reckten, doch sich nie im Winde drehten, weil sie zu schwer waren. Gegenüber lag die „Gologan-Villa“ dessen Mansardenfront eine Jagdszene darbot. Weiter mehr oben war das „Bedö-Haus“ dessen Erker in ambitiösem venezianischem Stil gebaut worden war.
Gleich IHM liebten auch andere diese Stadt. Doch viele von ihnen hatten rechtzeitig erkannt, dass die Stadt sich ihnen entfremdete und anders wurde, als zur Zeit ihrer Großväter und Väter, in den Jahren ihrer Geburt, ihrer Kindheit und ihres Mannesalters. Vielleicht war es dieser Umstand, der es ihnen erleichterte, endgültig von ihr Abschied zu nehmen und sie zu verlassen.
ER aber schien von Blindheit geschlagen zu sein. Als der nahegelegene Ausflugsort, die „Schulerau“, zu einem Kurort ausgebaut wurde, wo die sich aneinanderreihenden Hotels kaum noch die Natur zur Geltung kommen ließen, entgegnete ER jenen, die Kritik an dieser Maßnahme übten, dass auch hier der Zeitgeist des modernen Touristenverkehrs seinen Einzug halten müsse. Als sich des „Răcădău -Tal“ in ein Wohnviertel mit Standardhochhäusern verwandelte, so dass die Stadt wieder um einen vertrauten Weekend-Ort ärmer wurde, empfand ER zwar einen Stich im Herzen, doch ER sagte sich, dass jede gesunde menschliche Siedlung – und das war doch seine vor achthundert Jahren gegründete Stadt – wie ein Organismus wachsen müsse und dazu Raum brauche. Nur den Stadtkern, das alte Kronstadt, soll unversehrt bleiben, dann wird es sein Wesen nicht verlieren!
Bald kam es aber auch dazu, dass durch das Systematisierungsamt des Kreisvolksrates bauliche Eingriffe im Zentrum unternommen wurden. Die reformierte Kirche fiel als erste zum Opfer. ER gehörte nicht dieser Glaubensgemeinschaft an. Aber immer wieder fehlte IHM der Anblick des schmucken, aus gelb und braunen Backsteinen errichteten neugotischen Kirche.
Nach kurzer Zeit verschwand einer der ältesten Friedhöfe der Innenstadt. Der stammte noch aus dem 16. Jahrhundert. Als er an dem Park vorbeiging der an seiner Stelle angelegt wurde, schien es IHM als habe man eine der Wurzeln, die seine Stadt mit ihrer Vergangenheit verband, mit einer Hacke durchschnitten. Der neue Park war ärmlich: ein bisschen Gras... gelber Kies... hier und dort eine Bank. Doch kein Kronstädter setzte sich hier zur Rast nieder. Die Lebenden hatten kein Recht auf diesen Ort, der einst für die ewige Ruhe der Toten bestimmt worden war. Er gebührte ihnen!
Der Bagger kannte keine Rest. Er begann in dem Stadtviertel, das einst „Blumenau“ hieß, gefräßig um sich zu beißen. Gepflegte Familienhäuser und Villen wurden abgetragen. Ihre Eigentümer entschädigte man für ihren Besitz mit geringen Summen, die nicht einmal ein Zehntel des Wertes ausmachten. Man teilte ihnen winzige Staatswohnungen zu, wo der Großteil ihrer Möbel keinen Platz fand. In diesen „Menschensilos“ hatte das Wasser keinen Druck. Im Winter waren Zimmer und Küche ungeheizt. Schimmelblumen „zierten“ die neuen, noch unausgetrockneten Wände.
Warum mussten so viele ihre gesunden Wohnungen verlassen? Warum fielen so schöne Gebäude dem Systematisierungsplan zum Opfer? Warum erhob man unästhetische und unbequeme Hochhäuser, die wie Wassertropfen untereinander glichen und der Stadt den Anblick trauriger Monotonie verliehen? Wahrscheinlich darum, damit die Menschen, die in friedlicher Nachbarschaft in ihren Heimen gelebt haben, auseinandergerissen werden, um nicht etwa den Keim einer Widerstandsgruppe gegen die herrschende Willkür bilden zu können. In den großen Blocks, wo fünfzig-sechzig einander fremde Familien zusammengepfercht leben mussten, konnte die Obrigkeit alle leichter überwachen!
Das hektische Abreißen der Häuser bedrückte IHN. Anstatt die Gegenden zu meiden, wo diese Zerstörungen vor sich gingen, irrte ER in den Dämmerstunden durch die alten Straßen herum, wo er minutenlang vor den gähnenden Mauern stand, deren Dächer schon abgetragen waren. Die herausgerissenen und auf der Erde liegenden Fenster- und Türstöcke schienen IHM ausgestochene, erblindete Augen. Da waren aber auch massive Bauten, die sich von den Baggern nicht so leicht zerstören ließen. Einige Wände trotzten den gigantischen Maschinen, gleich jenen Soldaten, die zwar wissen, dass die Schlacht verloren war, dennoch bis zum letzten Atemzug dem Feind standhalten.
Von diesen bedrückenden Spaziergängen kehrte er gewöhnlich spät heim. Dann warf ER sich ins Bett, doch er fand keinen Schlaf, denn er trauerte jedem Ziegel seiner alten Stadt nach.
Die Staatskasse begann abzuflauen. Man konnte den Bau der neuen Wohnblocks nicht in dem Maß sichern, in welchem Rhythmus die alten Häuser demoliert wurden. So ebnete man einfach den Boden und inmitten der Stadt erschienen Flächen, die der leblosen Öde der Mondlandschaften glichen. Was geschah aber mit den Heimlosgewordenen? Man unterbrachte sie in den nahegelegen, entvölkerten Dörfern, wo so mancher Bauernsitz seit Jahren schon leer stand.
Dann wurde plötzlich der alte Marktplatz, das Herz Kronstadts, mit Brettern abgesperrt. Nur jene Fußgänger, die in den Gebäuden des großen, trapezförmigen Platzes wohnten, durften dort noch aus- und eingehen. Selbst die Verkehrsmittel mussten lange Umwege einschlagen, um, die abgesperrte Zone ausweichend, an ihr Ziel gelangen zu können. Milizmänner überwachten die strenge Einhaltung dieser Maßnahme. Monate dauerte diese Sperre.
Und dann... dann wurden die Bretter entfernt und der Verkehr wieder freigegeben. Natürlich war – wie es hier oft geschieht – die Umgestaltungsarbeit nur halb gemacht. Die alten Quadersteine, mit denen der Platz seit Jahrhunderten ausgelegt war, hatte man ausgegraben. Eine unebene Betonschicht bedeckte die Erde. Hier und da klafften tiefe Löcher. Graue Eisenrohre erhoben sich – wer weiß es zu welchem Zweck? – armlang aus dem Boden. Straßenlampen von kaum einer Manneshöhe, die den Pfeifen der Verkehrsschutzmänner glichen, richteten ihre Leuchtaugen auf die Erde, anstatt das imposante Gebäude des mittelalterlichen Rathauses auch in der Nacht zu beleuchten. Doch sie leuchteten überhaupt nicht, denn wegen der anbefohlenen Stromeinsparung waren keine Leuchtkörper in ihnen eingeschraubt. Unbequeme Parkbänke, die bloß das Überqueren des Platzes behinderten, zerstörten dessen Einheitlichkeit. In einer Ecke konnte man einen unscheinbaren Rundbau sehen, der als Trinkbrunnen gedacht war, nur floß aus ihm kein Wasser. Auch ein Springbrunnen, der mit seinen Flügeln eher einer Mühle glich, versteckte sich, wegen seiner Trockenheit beschämt, hinter dem Rücken des wuchtigen Rathauses.
„Beunruhigt euch nicht, Genossen“, erklärte die Kreisverwaltung. „Der Marktplatz bleibt nicht so! Er wird noch mit bunten Mosaiksteinen ausgelegt. Nur fehlt es vorläufig an den nötigen Fonds, die zur Beendigung dieser wichtigen Modernisierungsarbeit nötig sind!“
Wie gelähmt stand ER inmitten des zerstümmelten Platzes. Entsetzt blickte ER um sich her. Schließlich begriff ER, was durch diese sinnlose Bauarbeit bezweckt wurde: Man hatte versucht, dem Stadtzentrum sein mittelalterliches Aussehen, das Zeugnis über seine deutschen Begründer und Erbauer ablegte, zu rauben.
ER hätte aufschreien wollen. Doch ER beherrschte sich. Langsam trat ER den Heimweg an. In seinem Kopf und Herzen hämmerten ununterbrochen dieselben Gedanken: „Meine Stadt wird mir von Tag zu Tag fremder. Ich bin hier ein Fremder geworden!“
(Das mit der Schreibmaschine getippte Manuskript wurde uns von dem Grafiker Franz Illi, Ehemann der Verfasserin, zur Verfügung gestellt).