„Ich musst in Zeiten finst´rer Not mein Rosenau verlassen“

Zum 100. Geburtstag von Hans Bergel

Eine Zeitreise in Hans Bergels Siebenbürgen mit Petra A. Binder und Steffen Schlandt zum Träumen und Mitsingen

Die klangvolle Stimme vonPetra A. Binder, die kompetente Einführung von Steffen Schlandt zu den am Klavier gespielten Stücken und gesungenen Liedern, eine besinnliche Atmosphäre im halbdunklen Raum, literaturliebende Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter auch ein evangelischer Pfarrer mit seinen drei kleinen Kindern – ein unvergesslich stimmungs- und gehaltvoller Freitagabend im Festsaal des Deutschen Demokratischen Forums in Kronstadt in Gedenken an einen deutschen Schriftsteller mit siebenbürgischen Wurzeln, dessen 100. Geburtstag sich in diesem Jahr jährte: Hans Bergel. Auf den Sitzplätzen fanden die Besucher das sorgfältig und gekonnt zusammengestellte Veranstaltungsprogramm, das Lesungen von Auszügen repräsentativer Werke des Schriftstellers mit musikalischen Einlagen enthielt.

Zu Beginn erklang am Klavier die „Kunst der Fuge – Contrapunctus 1“ von J. S. Bach. Aus dem Essayband „Zuwendung und Beunruhigung. Anmerkungen eines Unbequemen“ wurde als Erstes der Text „Gedenkblatt für eine Stadt zwischen Abend- und Morgenland. Kronstadt, die ‚Stadt im Osten‘ “ vorgelesen:
„Ich habe keine Stadt je wieder so geliebt wie diese – Kronstadt in Siebenbürgen. Keine der historischen siebenbürgischen Städte hat Künstler und Dichter der Siebenbürger Sachsen so häufig und so leidenschaftlich beschäftigt wie diese, keine auch brachte so viele von ihnen hervor – und das, obgleich Kronstadt am Rande der Terra Borza, des Burzenlandes, einst vor allem wegen des kühlen und kühnen Unternehmergeistes seiner Bewohner in Wirtschaft und Handel weithin bekannt war. Die bedeutendsten Musiker der Landschaft im Karpatenhochland kamen von hier; fast die gesamte neuere Malerei Siebenbürgens wurde von Kronstädtern geschaffen; die meisten der herausragenden Schriftsteller stammen aus ihr und ihrer Umgebung. Einer von ihnen prägte mit dem Romantitel ‚Die Stadt im Osten‘ ihr bis heute gültiges Signum.“

Es ist in der Tat die Stadt, die Bergel prägte, inspirierte, lebenslänglich begleitete.

Es folgten mehrere Auszüge aus „Fürst und Lautenschläger. Eine Erzählung aus dem Siebenbürgen des 17. Jahrhunderts“, darunter der berühmte Passus: 
„Der Sänger stand plötzlich wie ein Schatten über dem Verkleideten: ‚Was hast du mir da gebracht!‘ keuchte er und packte ihn vor der Brust. ‚Was? – Die Freiheit? – Pfui!‘ schrie er auf, dass es über den Hof gellte: ‚Ich bin keine Hure und meine Kunst erst recht nicht! Geh, sag ihr das!‘ und schleuderte den Entsetzten mit einem Griff über das Steinpflaster.“

Aus „Die Wildgans. Geschichten aus Siebenbürgen“ las Petra A. Binder weiter die witzige Geschichte „Als ich den Weihnachtsmann zum ersten Mal sah“, die in die Kindheit des Autors führte. Der Dreijährige wurde von seinem Vater auf die Jagd mitgenommen und glaubte, im tief verschneiten Wald der Karpaten den Weihnachtsmann erblickt zu haben. Er schrie vor Freude und jubelte, ahnte dabei aber nicht, dass es sich eigentlich um einen riesigen Braunbären handelte, der glücklicherweise friedlich davoneilte.

Der Text „Die Karpaten. Mythische Macht und Mitte eines Landes“ überzeugte durch die Schönheit der Beschreibungen und Intensität der Gefühle:
„Manchmal umstehen sie das Hochland wie fantastische Gemälde. Es gibt Spätsommer-abende mit schwerem, von einer kaum bezeichenbaren Melancholie erfülltem Licht, an denen sie wie die verglosenden Scheite eines in Gold- und Kupferfarben zuckenden Riesenfeuers rings um das dunkle Land liegen – im Osten und Süden die Karpaten, im Westen das Erzgebirge. Aber im Mittagslicht sehen die Bauern sie von den Feldern als hellblaue, wie im Zorn zerbrochene Glasplatten aufragen, die jemand an den Himmel lehnte und dort vergaß. Immer wieder erscheinen Landschaften bei allen Völkern und in allen Kulturkreisen als Reservoire von Kräften und Mächten, die das geschichtliche Ereignis mitbestimmen und mitgestalten.“

Wie sehr Bergel die Freiheit liebte, ging aus dem Essay „Heimat ist Freiheit. Gedanken über ein Wort, das keiner Rechtfertigung bedarf“ hervor:
„Heimat bedeutet aus meiner Sicht zuallererst Freiheit – die Freiheit, der zu sein, der ich nach Geburt, Elternhaus, Erziehung, Sprache, Bildung und Geschichte, nach Aussage- und Verantwortungsbedürfnis bin. Die Frage, ob all dies geografisch lokalisierbar, ob es an eine bestimmte Landschaft der Herkunft, an den vertrauten Berg oder Bach gebunden sein muss, erscheint mir zweitrangig. Als Siebenbürger Sachse erfuhr ich gleich vielen anderen auf bittere Weise, dass Heimat nur noch in uns selber liegen darf, wollen wir Heimat retten. Wie viele andere erfuhr ich die Ohnmacht, der Zerstörung der Heimat zusehen zu müssen, ohne ihr Einhalt gebieten zu können. Was weiß der von Heimat, der den mit ihrem Verlust verbundenen Schmerz nicht empfand? Und es gibt mehr Formen von Heimatverlust, als unsere durch Krieg, Zerstörung, Verschleppung und Vertreibung gezeichneten Generationen in der Regel wahrhaben wollen.  Heimat als Idylle ist dabei eines der Missverständnisse. Auch Heimat ist dem ewigen Wandel aller Dinge unterworfen. Jede Generation erfährt sie anders und neu. Doch immer war Heimat Grundbestandteil der Kultur. Was uns aber letzten Endes eine Gemeinschaft von Menschen, eine als unaustauschbar erscheinende Lebensform in einer bestimmten Landschaft zur Heimat macht, ist die Liebe, die zu geben und die anzunehmen es uns drängt. So gesehen, bedarf unser Heimatgefühl keiner Erklärung, keiner Begründung und keinerlei Rechtfertigung.“

Zusätzliche biografische Angaben über Hans Bergel erübrigen sich, wenn man diese Zeilen gelesen hat. Ebenfalls, wenn man die musikalischen Einlagen, gefühlvoll gespielt von Steffen Schlandt, gehört hat: „Treue“, Worte und Weise von Heinrich Schlandt (1909) Dr. Eduard Gusbeth gewidmet, mit einem Satz von Paul Richter; „Die Schwarze Kuh“ von Valentin Greff Bakfark; das Weihnachtslied „Süßer die Glocken nie klingen“, dessen Melodie von Fritz Schiel mit einem Satz von Rudolf Lassel stammt und ein Hirtenlied von Béla Bartók.

Ein rührendes Moment des Abends war das Ertönen des Rosenauer Heimatliedes, Text von Hans Bergel und Melodie von Erich Bergel, das an Leben und Wirken der beiden Brüder denken ließ:

„Dort, wo die Wälder grün ins Blau der Bergeshöhen ragen, 
weiß ich mein schönes Rosenau an hell und dunklen Tagen.
Dort kehr ich immer wieder ein, ich wurde dort geboren,
dort wird mir immer Heimat sein,
sie ging mir nie verloren.
Ich musst in Zeiten finst’rer Not mein Rosenau verlassen“


Den Ausklang des Abends bildete das siebenbürgisch-sächsische Volkslied „Et såß e kli wäld Vijeltchen“ („Es saß ein klein wild Vögelein)“. Näheres dazu kann man unter folgendem Link nachlesen: siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/25672-hegt-wird-gesangen-et-sass-e-klie-waeld.html. Das Lied erinnerte nochmals an Bergels Erzählung „Fürst und Lautenschläger“, wo es am Schluss heißt:
„Der Sänger sang es, den nie wieder jemand sah. Aber das Lied blieb erhalten. Es war schon damals ein uraltes siebenbürgisches Lied, und es ist durch den Mund des Volkes und den seiner Sänger durch alle die Jahrhunderte vielleicht durch ein ganzes Jahrtausend bis in unsere besseren Tage gewandert: ‚Es saß ein frei Wildvögelein / in einem grünen Walde. / Es sang die ganze lange Nacht, / dass seine Stimme schallte…/ Ich bin ein frei Wildvögelein / Und niemand kann mich zwingen.“

Hans Bergel hätte sich, so wie ich ihn gekannt habe, gefreut, die melodische Stimme der Vorleserin Petra A. Binder und die wohlklingenden Klavierlieder des begnadeten Musikers Steffen Schlandt zu hören. Denn es war nicht nur eine Gedenkfeier, sondern auch eine Einladung, über siebenbürgisch-sächsische Geschichte, Kultur und Landschaft, über Werte wie Heimatliebe, Zugehörigkeit, Identität, Freiheit, Naturverbundenheit u.v.m. würdigend in Ruhe und Eintracht nachzudenken. Jener Freitagabend, auf den wir nach einer dichten Arbeitswoche alle ungeduldig gewartet haben, erwies sich als ein Tag der Meditation, in dem ein glaubwürdiges Porträt des siebenbürgisch-deutschen Schriftstellers mit Weitblick Hans Bergel gezeichnet wurde, der in seiner Heimat und darüber hi-naus nicht in Vergessenheit geraten sollte.