Am Sonntag, dem 18. Dezember, geht ein Foto durchs Internet: darauf kann man die Eingangstür des Kronstädter Sică-Alexandrescu-Dramentheaters sehen. Daran kleben weisse Plakate. Auf ihnen steht: „Wir wollen unsere Schauspieler zurück“, „Stoppt die illegalen Entlassungen“, „Jos Scripcaru de pe acoperişul teatrului/Runter mit Scripcaru vom Dach des Theaters” (eine Anspielung auf den Titel des Musicals Der Fiedler auf dem Dach/ Scripcarul pe acoperiş). Die Plakate stammen von einer Protestaktion, die einen Tag zuvor stattfand und an der über 60 Theaterleute aus Kronstadt, Bukarest, Neumarkt und Sanktgeorgen teilgenommen hatten. Durch diese Aktion wollten die Künstler ihre Solidarität mit den Kronstädter Kollegen zeigen. Das Kronstädter Dramentheater steckt seit mehreren Monaten in einer tiefen Krise. Durch die Situation in der Kronstädter Kultureinrichtung leiden auch diejenigen, ohne welche Theater nicht möglich wäre: die Zuschauer. „Das ist Zirkus, kein Theater“, meinen viele von ihnen. Wie kam es dazu? Wer ist an der Situation schuld? Um die Situation besser zu verstehen, muss man die Fakten kennen, die zu dieser Krise führten.
August 2015: Beim „Sică Alexandrescu“-Theater wird ein Wettbewerb für den Intendantenposten organisiert. Im Rennen sind 5 Bewerber. Nach der Überprüfung deren Management-Projekte folgte für diejenigen, deren Projekte die Note über 7 erhalten haben, ein Interview mit einer Wettbewerbskommission. Beim Interview musste man laut Gesetz eine Note über 7 erhalten, um überhaupt als Leiter in Frage zu kommen. Keiner der Bewerber schaffte es, diese Note zu erhalten.
November 2015: Wenige Tage vor Beginn des Festivals für Zeitgenössische Dramatik gab die Leitung des Theaters (Intendant Claudiu Goga, Dramaturgin Oana Borş und Chefbuchhalterin Mariana Hudişteanu), ihren Rücktritt bekannt. Grund für ihre Unzufriedenheit war die problematische Beziehung mit der Leiterin der Direktion für Auslandsbeziehungen, Kultur und Stadtereignisse im Bürgermeisteramt, Cecilia Doiciu, die gleichzeitig auch Mitglied des Verwaltungsrates des Theaters war. Als Reaktion auf den Rücktritt des Leitungsteams wurden ihr von Bürgermeister George Scripcaru die Ämter im Kulturbereich entzogen. Trotzdem warnten die Angestellten des Theaters: „Damit geht unsere Protestaktion nicht zu Ende! Wir wollen, dass sich das Bürgermeisteramt in unsere internen Angelegenheiten nicht mehr einmischt.“ Als Zeichen des Protests trugen alle Schauspieler während der Aufführungen einen roten Punkt. An der Protestaktion nehmen nicht alle Schauspieler teil. Man kann erkennen, dass die Angestellten des Theaters in zwei Gruppen geteilt sind: die einen unterstützen Goga, die anderen nicht.
März 2016: Das Bürgermeisteramt kommt mit einem Vorschlag für einen interimistischen Leiter, bis ein neuer Wettbewerb organisiert wird: der Bukarester Schauspieler Doru Ana. Die protestierenden Schauspieler sind dagegen. Ana nimmt bis zum Schluss den Vorschlag nicht an und kehrt nach wenigen Tagen nach Bukarest zurück.
Mai 2016. Ein neuer Wettbewerb für den Intendantenposten wird organisiert. Unter den Kandidaten befindet sich der Bukarester Regisseur Dan-Marius Zarafescu. Sein Management-Projekt erhält die Note 5,45. Auch die anderen Kandidaten schneiden schlecht ab. Niemand schafft es, Intendant zu werden.
September 2016: Wieder einmal organisiert das Kronstädter Bürgermeisteramt, Hauptförderer des Theaters, einen Wettbewerb. Diesmal ist der Druck groß. Es muss endlich einen Gewinner geben. Fünf Kandidaten reichen ihre Projekte ein. Davon schafft es ein einziger in die nächste Etappe: Dan-Marius Zarafescu. Das Interview mit der Wettbewerbskommision am 29. September ist öffentlich. Es nehmen auch Angestellte des Theaters und einige Journalisten teil. Zarafescu schafft es dieses Mal, die Kommision zu überzeugen. Diese besteht aus zwei Angestellten des Bürgermeisteramtes, Beatrice Rancea (Intendantin der Bukarester Staatsoper), Emil Boroghină (Leiter des Internationalen Shakespeare-Festivals), Mircea M. Ionescu (Leiter des Theaters aus Giurgiu) und Horaţiu Mihaiu (Regisseur). Zarafescu erhält die Note 9,21. Am selben Tag organisieren 13 Schauspieler des Theaters eine Protestaktion. Zarafescu sei trotz der hohen Note beim Wettbewerb fachlich und menschlich total ungeeignet. Der korrekte Ablauf des Wettbewerbs wird bezweifelt. Außerdem seien drei Mitglieder der Wettbewerbskommission mit dem Kandidaten befreundet.
Am Abend erhält die Kronstädter Lokalpresse mehrere Mails mit den Drohungen, die Zarafescu den Mitgliedern der Kommission, die seinem Projekt im Monat Mai die Note 5,45 verliehen haben, auf Facebook geschickt hat. „Ihr müsstet in ein Stadion gebracht werden und dort erschossen werden“, lautet eine der Drohungen.
Es kommt auch eine Pressemitteilung von der anderen Gruppe, der Kronstädter Theatergewerkschaft. „Wir sind empört über die Art und Weise, in der manche Anhänger von Claudiu Goga versuchen, den neuen Intendanten zu beseitigen“.
Oktober 2016: Die Aufführungen des Theaters können nicht mehr besucht werden. 13 Schauspieler weigern sich, die Bühne zu betreten, bis das Bürgermeisteramt einen korrekten Wettbewerb organisiert. Es wird ein Picknick vor dem Theater organisiert, um die Kronstädter über den aktuellen Sachstand beim Theater zu informieren. Die Facebook-Seite des Theaters „Teatrul Sică Alexandrescu“, die von Protestierenden verwaltet ist, wird in „Vocea Curajului din Teatrul Sică Alexandrescu“ (Die Stimme des Mutes aus dem Sică-Alexandrescu-Theater) umbenannt. Künstler aus dem ganzen Land teilen die Beiträge und erklären sich mit den Protestierenden solidär.
13.Oktober 2016: Dan Marius Zarafescu ist der neue Intendant des Kronstädter Dramentheaters. Die offizielle Ernennung durch den Bürgermeister Scripcaru erfolgte, nachdem der Einspruch eines Gegenkandidaten von Zarafescu abgelehnt wurde. Die 13 Schauspieler weigern sich nach wie vor, die Bühne zu betreten, solange die Lokalbehörden nicht einen neuen, transparenten Wettbewerb für den Intendantenposten organisieren. Vertreter des Bürgermeisteramtes sind jedoch der Meinung, dass der Wettbewerb korrekt war und dass die Konflikte gelöst werden müssen, damit das Festival für Zeitgenössische Dramatik, das jedes Jahr im November stattfindet, unter guten Bedingungen organisiert werden kann.
19.Oktober 2016: Zarafescu kündigt.
25.Oktober 2016: Die Schauspielerin Viorica Geantă Chelbea, Leiterin der Kronstädter Theatergewerkschaft, wird vom Bürgermeisteramt als interimistische Intendantin ernannt. Chelbea soll das Theater leiten, bis ein neuer Wettbewerb organisiert wird. Die protestierenen Schauspieler sind jedoch mit ihrer Nennung unzufrieden und weigern sich weiterhin, zu spielen. Die neue Intendantin verspricht, die Konflikte zwischen ihren Kollegen zu lösen. „Ich werde niemandem kündigen“, gibt sie in der Lokalpresse bekannt.
November 2016: Drei Angestellte des Theaters werden entlassen.
Elise Wilk