Vom 6. bis zum 21. Oktober waren junge Erwachsene unterwegs im Osten mit dem entfernten Ziel Karaganda. Ziel dieses Unterfangens war die Aufarbeitung der Vergangenheit unserer Großeltern, die eine Zeit von Krieg, Flucht, Vertreibung und Zwangsverschleppung mitmachen mussten.
Im Karagandegebiet wollten wir uns ein Bild über die Lebenswelt eines „Gulag“ machen. Spassk war das Hauptlager des Kriegsgefangenenkomplexes Karaganda. Hier wurden bei glühender Hitze und eisigem Frost in der stalinistischen Zeit über viele Jahre Zehntausende Menschen aller Nationen eingesperrt, gequält und mit unmenschlicher Arbeit in den Tod getrieben. Heute ist dieses Lager militärisches Sperrgebiet und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Auf dem Gelände des Friedhofs haben über 16 Nationen, von Japan bis Frankreich und Finnland, ihren Gedenkstein aufgestellt. Am rumänischen Denkmal, das erst 2003 aufgestellt wurde, hielten wir eine Andacht und streuten Erde aus der Heimat vor die Inschrift.
In den Lagern waren nach 1944 über 600 Rumänen inhaftiert; 90 fanden in Karaganda ihre letzte Ruhestätte. Da draußen in der Steppe konnten wir uns ein gutes Bild über die vielen Schicksale dieser unglücklichen Menschen machen. Anschließend besuchten wir den Sitz des Vereins „Dacia“, wo schon Leute ungeduldig auf uns warteten. Ihre Freude war groß, Besuch aus der Heimat empfangen zu dürfen. Also besuchten wir, die deutsche Minderheit aus Rumänien die rumänische Minderheit in Kasachstan.
Bei einem liebevoll zubereiteten Imbiss mit Käse und Schnaps aus der Heimat lauschten wir gespannt den Geschichten über die Schicksale dieser Menschen. Interessant war das Schicksal des Herrn Brasoveanu. Seine Geschichte musste übersetzt werden, da er kein Rumänisch sprach. Sein Vater war Rumäne und seine Mutter Russin. Sein Vater wurde als Legionärsaktivist noch in Kriegszeiten hierher zwangsverschleppt und in einem Kriegsgefangenenlager interniert. Dieses Schicksal traf mehrere Rumänen. Um aus der Haft entlassen zu werden, gab es nur eine Möglichkeit: die Heirat.
So bemühte sich dann jeder um die eine oder andere Köchin und manchmal klappte es, da die Auswahl an Männern durch den Krieg arg geschmälert wurde. So geschah es im Falle Brasoveanus. Unter den erwähnten Bedingungen wurde man aus dem Lager entlassen und durfte zur Frau ziehen.
Von der Arbeit wurde man aber nicht freigesprochen. Auch weiterhin musste die Zwangsarbeit abgeleistet werden. Viele Mitglieder der rumänischen Minderheit stammen aber auch aus der Republik Moldau. Sie wurden noch zu Sowjetzeiten hierher versetzt. Der Präsident Nicolae Plushkis stammt auch aus der Republik Moldau, aber er kam als Freiwilliger und übernahm als Trainer die Gymnastikmannschaft. Er zeigte sich sehr erfreut über unseren Besuch. Er sagte uns auch, wie wichtig dieser Verein für die kleine Minderheit ist.
Über diesen Verein werden noch verschiedene Gepflogenheiten am Leben erhalten und jeden Sonntagnachmittag wird mit der jungen Generation rumänisch gelernt und geübt. Die Bilder an den Wänden erinnern an die Geschichte der Rumänen: von Mihai Eminescu bis zu Stefan dem Großen. Aus Rumänien habe sie bisher nur der Staatspräsident Traian Băsescu besucht.
Vor einigen Jahren wurde Nicu Plushkis mit seiner Folkloretanzgruppe auch nach Rumänien eingeladen. Diese Reise traten sie mit dem Zug an. Rumänien ist aber sehr weit: sieben Tage dauerte allein die Hinfahrt. Nach sehr vielen und hoch interessanten Gesprächen und Eindrücken mussten wir aber wieder zurück in die Hauptstadt aufbrechen. Auf uns wartete eine lange Rückreise bis in unser geliebtes Siebenbürgen. Zuerst mit dem Flugzeug ans Kaspische Meer und schließlich die lange Autofahrt über Uralsk, Saratow, einst eine Metropole der Wolgadeutschen, über Kiew und Czernowitz nach Hause.
Nach vielen Kilometern und vierzehn Grenzübergängen, die wir alle das erste Mal überhaupt ohne irgendwelche anfallenden „Gebühren“ passierten, kamen wir gesund wieder daheim an. Nach so einer erfahrungsreichen Fahrt konnte schließlich der eine oder der andere sich ein Bild darüber machen, was den Großeltern in den schweren Nachkriegsjahren widerfahren ist. Es ist uns wichtig, ihre Erfahrungen nicht zu vergessen und daraufhin arbeiten, dass sich solche Widrigkeiten nicht noch einmal wiederholen.
Mit der Verständigung unter den Völkern steht und fällt alles. Auch wenn man unterschiedliche Sprachen spricht, kann man lernen, auf unterschiedliche Weise miteinander umzugehen. Diesen menschlichen Umgang haben wir tagtäglich auf unserer Fahrt erlebt.
TEIL I