Wie bekannt, zieren zwölf Statuen in etwa Lebensgröße in fast halber Höhe die Chorstrebepfeiler der Schwarzen Kirche. Ihre Originale stammen aus der Zeit um 1400, als die damalige Marienkirche in der Amtszeit des Stadtpfarrers Thomas Sander (1377 – 1419?) nach einem groß angelegten Plan zu bauen begonnen wurde. Die Statuen bilden ein für Siebenbürgen einzigartiges Ensemble von Werken der mittelalterlichen Bildhauerkunst.
In den Jahren 1937 – 1983 wurden die im Laufe der Zeit verwitterten Statuen erneuert und die erhalten gebliebenen Originale im Innern der Kirche aufgestellt.
Das Wissen um die Bedeutung der einzelnen Statuen ging im Laufe der Zeit verloren. Schon seit über 200 Jahren wurde versucht, sie zu deuten. Eine frühe Beschreibung von 1801 von Georg Michael Gottlieb von Herrmann nennt sie die zwölf Apostel, was aber nicht stimmen konnte, weil zwei Statuen Frauen darstellen, eine einen Engel und auch Christus war klar zu erkennen. Der Monographist der Schwarzen Kirche Ernst Kühlbrandt (1857 – 1933) hat im Jahre 1927 eine erste umfassende Erklärung versucht, was bei den meisten Statuen anhand ihrer Attribute leicht möglich war.
Auf dem sechsten Chorstrebepfeiler steht nach Kühlbrandt ein Pleban, also ein Geistlicher, zu erkennen an seiner Amtstracht. Später wurde vorgeschlagen, diesen Pleban als den Gründerstadtpfarrer der Kirche Thomas Sander zu identifizieren. Es dürfte aber nach katholischem Kirchenrecht unstatthaft gewesen sein, einen lebenden Menschen als Statue an der Kirche darzustellen, ohne dass er ein Heiliger gewesen wäre.
Die übrigen Statuen stellen Gestalten aus den ersten vier Jahrhunderten nach Christi Geburt dar, ein über tausend Jahre Jüngerer paßt gar nicht in dieses Ensemble.
Auf die Frage nach einem Geistlichen aus dieser Zeit fiel uns der erste Diakon Stephanus ein, „ein Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes“, wie er in der Apostelgeschichte 6,5.8 genannt wird, der wegen seines Glaubens auch zum ersten Märtyrer, Blutzeugen des Christentums wurde.
Stephanus – sein Name bedeutet „Krone“ – passt auch mit seinem Namen gut nach Kronstadt, das im Griechischen „Stephanopolis“ = Kronenstadt genannt wurde. Ebenso passt er zeitlich zu den anderen Statuen.
Der Gedenktag von oder für Stephanus ist der 26. Dezember, der zweite Weihnachtstag. Dieser Tag hatte auch im mittelalterlichen Kronstadt eine besondere Bedeutung, denn an diesem Tag wurden der Stadtrichter und der Rat der Stadt für das neue Jahr gewählt.
Wir hoffen, mit dieser Deutung der sechsten Chorstrebepfeilerstatue einen Beitrag zur besseren Kenntnis der Schwarzen Kirche geleistet zu haben.
Kronstadt, 3. Januar 2016
Gernot Nussbächer