Im Rahmen dieser vierteiligen Serie werden ausgewählte preisgekrönte Aufsätze aus der vom Bildungsministerium veranstalteten nationalen Schüler-Olympiade für „Sprache und Literatur in deutscher Muttersprache” vorgestellt, die diesen April in Oberwischau/Vișeu de Sus stattfand.
Die Aufgabenstellung für die zwölfte Klasse lautete: Verfasse ausgehend von dem Zitat einen Text: „Einzeln sind wir Worte, zusammen ein Gedicht“ (Georg Bydlinski)
„Einzeln sind wir Worte, zusammen ein Gedicht“. Völlig zurecht lässt man sich aber fragen, wer der Dichter ist. Ja, wohl sind wir Worte: einsam und sinnlos, wenn es kein zweites Wort gibt, das uns im Leben und Tod begleitet. Ja, wohl leben wir in Abhängigkeit voneinander und wären alleine, nichtig und bedeutungslos für die Welt. Wir gehören zusammen wie die Atome, wie die Wassertropfen im Meer. Erst wenn einer von uns einen zweiten findet, werden wir ein Teil eines Kunststückes. Die Frage bleibt bloß: „Wer ist der Künstler? Wer schreibt unser Gedicht? Wer bestimmt das Gedicht, welches aus uns wird? Sind wir die stillen Poeten unseres Lebens oder die geniale Dichtung eines kontroversen Genies?“
Das alles sind Fragen, die mir den Glauben bestätigen, dass das Dasein eine erweiterte Form der Dichtung ist. Es wird von einer geschickten Hand niedergeschrieben, von einem stolzen Auge betrachtet und mit warmer Stimme immer wieder weitergelesen. Das Universum samt allem, was es zum Universum macht, ist Poesie. Der Dichter ist ein Gott und Götter selbst sind Dichter. Die Bibel zu öffnen und die Genesis zu lesen oder Rilkes Dichtung verstehen zu können, sind im Grunde genommen schockierend ähnliche Sachen, denn beide handeln von der Schöpfung einer Welt. Daher taucht die Ironie des Lebens ständig auf, wenn Götter und Dichter hadern. „Ich kenn´ nichts Ärmeres unter der Sonn´ als Euch Götter“ schreibt Goethe in seinem „Prome-theus“, ohne zu wissen, dass er selbst ein Gott ist. Sein Name ist ja nicht zufällig. Zufall gibt´s im Leben und in der Dichtung nicht. Was mich angeht, ich kenne nichts Teureres unter der Sonne als Dichter.
Nun, dass es geklärt worden ist, dass die Welt eigentlich aus Poesie besteht, ist selbstverständlich, dass wir Menschen Worte oder sogar Wörter sind. Diese Tatsache sollte schmeichelnd für die Menschen sein. Die Grenzen der Sprache, des Wortschatzes, sind ja die Grenzen einer Welt. Was man in Worten nicht ausdrücken kann, ist des Öfteren so gut wie nicht existent, weil die menschliche Vorstellungskraft tatsächlich auch von Wörtern bestimmt ist. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Wort. Einige Wörter sind prägender, ausdruckskräftiger als andere. Das haben vor ein paar Jahrzehnten die Symbolisten und Expressionisten entdeckt. Es gibt Wörter wie „Angst“, „Tod“, „kalt“, welche mit anderen Wörtern zusammengestellt den Schlüssel, die allgemeine Weltformel definieren können, alleine aber haben sie keine Tiefe. So sind die Menschen auch. Alleine können sie wie Wörter mit gerundeten Buchstaben auf der weißen Makulatur des Genies aussehen. Menschen können hervorragend sein, sie können manchmal beeindrucken und Empfindungen erwecken, aber ihr Leben fängt erst dann an, wenn der Dichter seine Kunst vollbracht hat.
Die wahre Poesie entsteht aus zwei Wörtern, so wie das echte Leben auch nur unter zwei Menschen entstehen kann. „Ich liebe“ ist schon ein Gedicht, zwei Liebende sind schon ein Leben. Liebe, Poesie und Leben sind seit Ewigkeiten verwandt. Der Tod gehört ebenfalls zu dieser Familie. Durch Liebe und Poesie verleiht das Genie den Menschen eine gewisse Transzendenz zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein. In einer Welt, in der die Materie hauptsächlich von Liebe und Poesie – von Kunst – dargestellt ist, können Geburt und Tod nichts anderes als Ereignisse eines ferneren Existenzfadens sein. Genauso wie man das Ende einer Verszeile oder eben eine Strophe nicht mit dem Schluss des gesamten Gedichtes verwechseln darf, so kann man nicht den Tod als Ende der menschlichen Existenz deuten lassen. Wenn Wörter nicht sterben, wie sollten´s die Menschen tun? Es sind dieselben Buchstaben, die Tausende von Gedichten schreiben. Die Wörter sind, so wie die menschlichen Wesen, im-mer dieselben, doch tauchen sie unter verschiedenen Formen auf. Das ist ein Gedicht, ein Wortspiel und das Leben ein Spiel der Seelen. Ein Versteckspiel ist das Leben. Zwei Seelen, die zu einer einzigen gehören, werden getrennt und in der Welt wie teure Schätze versteckt und vielleicht aufs Nimmerwiedersehen verdammt, oder ihnen wird ein glückliches Schicksal bestimmt. Der Dichter weiß nie genau, ob er eine Elegie oder eine Ode an die Liebe schreibt; die Menschen wissen nie, ob die Liebe, dieses hohe Gefühl, sie beleben oder töten wird. Jedoch schreibt der Dichter und jedoch leben die Menschen und riskieren täglich, ein Wort aus einem Todesgesang oder eines aus einer erheiternden Ballade zu sein. Das macht die Menschheit zum Gedicht.
Es gibt auch noch die Klänge, die Töne, die Reime, den Rhythmus. Ein Gedicht ist ein schlagendes Herz, das einmal schlägt, sich dann ausruht und erst dann wieder schlägt. Unser Herz schlägt rasend, wenn wir wütend sind, oder im Wellentakt, wenn wir am Strand liegen und den Sonnenuntergang betrachten. Manch-mal, wenn sich zwei Lippenpaare berühren oder vier Augen treffen, wandelt sich das Herz in einen Schmetterling um. Die Schläge unseres Herzens sind dann nur der verwirrte Flug des Schmetterlings in unserem Busen. Es gibt im Leben trochäische Momente und jambische Ruhezeiten. Es gibt im Leben leichte Lösungen wie ein einfacher Reim oder Situationen, die ausgangslos zu sein scheinen, wie eingeschlossene Reime. Oft taucht aber auch der Binnenreim auf, wenn man die Antwort in sich selbst wieder findet. Das macht die Menschheit auch zum Gedicht.
Natürlich gibt es für meine Behauptungen keinen wissenschaftlichen Hintergrund. Niemand hat bis jetzt eine Entstehungstheorie des Universums erfunden, die auf Poesie fußt und niemand scheint Absichten in dieser Richtung aufzuweisen. Wohl verständlich! Kein Mensch der Zahlen und Daten könnte den Mut haben, an Dichtung mehr als an Wissenschaft zu glauben und sich damit zufriedenstellen. Ich aber schon! Tatsächlich besteht das Glück meines Lebens darin, ein Wort unter anderen Worten zu sein, so wie Fausts Glück darin bestand, ein Mensch unter den Menschen zu sein. „Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“ – das bedeutet Leben und Poesie. Das könnte eine wirklichkeitsgetreue Interpretation des menschlichen Wesens sein: Eine Seele im Universum. Ein Wort in einem Gedicht.
Das ist mein Plädoyer, meine Lebensanschauung. Ich treibe es so weit sogar, dass ich es Religion nenne: das Leben ist eine erweiterte Form von Dichtung, Menschen nur Worte, die zusammen Gedichte werden und Gott … Ich glaube, Gott kann nur ein Dichter sein.