Nach elf Jahren in Madrid sind Irina und Liviu Berindea wieder daheim bei ihren Töchtern Ani und Alexandra. Das erste Mal seit mehr als einem Jahrzehnt der Trennung ist die Familie wieder dauerhaft vereint. Nicht wie in den Jahren zuvor, in denen meist entweder Vater oder Mutter für nur wenige Wochen in das heimatliche Sighetu Marmaţiei kamen.
Nun hat die Wirtschaftskrise in Spanien dem Traum der Eltern nach einem besseren Leben vorerst ein Ende bereitet. Diese Episode aus dem Leben der Familie Berindea erzählt Laura Căpăţână Juller im Gespräch mit dem Publikum, das in den 76 Minuten zuvor ihre Dokumentation „Aici, … adică acolo“ auf dem Astrafilm-Festival in Hermannstadt/Sibiu gesehen hatte. Der Dokumentarfilm, der auf dem Filmfestival seine Premiere feierte, ist das erste große Projekt der jungen Journalistin. Ein Projekt, das sie vier Jahre gekostet hat.
In ihrem Film zeigt Căpăţână Juller die Folgen der – nicht nur hierzulande – weitverbreiteten Arbeitsmigration nach Westeuropa. Das Thema ist nicht neu, aber immer aktuell. Derzeit zwingen die wirtschaftlichen Probleme viele rumänische Bürger, die ihr Geld bislang im Ausland verdienten, zur Rückkehr in die Heimat. Die in Kronstadt/Braşov geborene Journalistin beschäftigt sich seit langem mit der Thematik.
Besonders betroffen war sie von Geschichten über Kinder, die unter dem Fortgang ihrer Eltern litten. „Die Kinder leiden ja am meisten, sie können nichts entscheiden“ meint Căpăţână Juller. „Die Eltern sagen, wir fahren morgen weg und die Kleinen müssen damit leben.“ Als Journalistin – unter anderem für die ADZ – hatte sie das Thema „Arbeitsmigration“ in der Vergangenheit in mehreren Artikeln bearbeitet, erhielt 2007 einen Preis der Kindernothilfe in Deutschland. „Und irgendwie hat mich das Thema weiter beschäftigt“, meint die junge Filmemacherin.
Sie selbst hat während ihrer Zeit als Schülerin am Pädagogischen Lyzeum in Hermannstadt/Sibiu erlebt, wie es ist, von den Eltern getrennt zu leben – eine Erfahrung, die sie tief geprägt hat. So erklärt sie sich zumindest ihre starke Anteilnahme am Schicksal der jungen Familienmitglieder im Film. „Es gab viele Momente, wo ich zur Mutter gesagt habe, komm zurück, deine Tochter heult den ganzen Tag.“
Vor allem die jüngere der beiden Schwestern, Alexandra, genannt Sanda, litt unter der Situation. Vielleicht auch deshalb hat sich zwischen den beiden in den drei Jahren der Filmarbeiten eine besonders enge Beziehung entwickelt. „Sanda war zweimal im Krankenhaus und immer ist die Mutter schnell gekommen.“ Nicht aber, ohne zuvor die Filmemacherin anzurufen und zu fragen, ob sie fahren solle oder nicht. Für Căpăţână Juller sind die Krankenhausaufenthalte ein Alarmzeichen, mit dem die jüngere der Schwestern signalisierte, dass sie ihre Eltern braucht.
Schwierig gestaltete sich die Suche nach den Protagonisten für ihr Projekt. Über ein Jahr lang fuhr die 32-jährige Journalistin durch Rumänien. Im ganzen Land führte sie Film-Workshops an Schulen durch, wodurch sich ihr Türen öffneten, die sonst verschlossen geblieben wären. In der Moldau, in Muntenien, in Siebenbürgen und schließlich auch in der Maramuresch.
In Sighetu Marmaţiei traf sie dann die gesuchte Familie. Ani, mit mittlerweile 20 Jahren die ältere der beiden Schwestern, lud Căpăţână Juller eines Tages nach Hause ein. Das Mädchen, eine Teilnehmerin ihres Workshops in Sighetul Marmaţiei, war ihr zuvor kaum aufgefallen, sie war ein wenig die graue Maus in der Gruppe. Aber das Kennenlernen der Großeltern und der Schwester Sanda verlief so offen, dass ihre Entscheidung schnell fiel.
Im Film allerdings spart sie emotionelle Szenen aus. Effekthascherei war nicht ihr Ziel, nur einmal fließen Tränen. „Ich wollte eine absolut ganz normale Familie zeigen“, meint Căpăţână Juller, „und nicht die extremen Fälle, über die sonst in den Medien berichtet wird“. Zwischen 2008 und 2011 begleitete sie die beiden Mädchen und deren Großeltern mit der Kamera.
Sie erhielt totalen Zugang zur Familie, durfte mit ihrer Kamerafrau alles filmen. Alle zwei, drei Monate verbrachte die Journalistin einige Wochen bei und mit der Familie, so nahe wie möglich. Sie begleitete die Menschen in ihrem alltäglichen Leben, Tag und Nacht. Alles Wichtige und unwichtige drehte sie. „Das muss dich alles interessieren“, war sie überzeugt. Nur manchmal zog sie sich an einen privaten Ort zurück, ihr „Backup“ wie sie sagt. Ohne diese zeitweiligen Rückzüge könnte man als Filmemacher solch ein Projekt nicht durchstehen, erklärt die junge Frau, die selbst erst kürzlich Mutter wurde.
In jeweils mehrwöchigen Aufenthalten vor Ort lebte sie mit ihren Protagonisten, hob sie die Distanz auf zwischen Filmemacher und Gefilmten. Entstanden ist ein Porträt, das zwei Kinder beim Aufwachsen zeigt, großgezogen von den Großeltern. Die Verbindung zu ihren Eltern halten die Schwestern über das Telefon und den Computer. Während der seltenen Besuche der Eltern suchen die Mädchen die Nähe zu diesen. Sie schlafen im selben Bett, genießen die gemeinsame Zeit beim Einkaufen oder beim Essen auf der Baustelle des Hauses, das einmal das gemeinsame Heim werden soll.
Indes bleibt die Hausbaustelle die einzige Konstante im Film, die sich nicht verändert. „Eure Mutter verschwendet Geld für unnütze Dinge“, meinte einmal die Großmutter beim Auspacken eines der Pakete, die regelmäßig per Bus aus Spanien kommen. An solchen Stellen wird deutlich, wie sehr Menschen sich auf der Suche nach einem vermeintlich besseren Leben im Materialismus verirren können und die eigentlichen Ziele aus den Augen verlieren.
Auch die etwas pummelige Sanda, die heimliche, tragische Hauptfigur des Films, erweist sich als wache Beobachterin der Familiensituation, wenn sie vor der Kamera fragt, warum die Menschen immerzu nur dem Geld hinterherlaufen, wo doch andere Werte ebenso wichtig sind im Leben. Dasselbe fragte sich auch Căpăţână Juller – die Antwort indes bleibt offen und kann wohl auch nicht beantwortet werden.
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Illegale Mütter
Das Thema Arbeitsmigration stand auch im Fokus eines weiteren Wettbewerbsfilms beim Astra-Filmfestival. „Mama Illegal“ des österreichischen Journalisten Eduard Moschitz zeigt das Schicksal dreier Mütter aus einem kleinen Dorf im Süden der Republik Moldau. Aurică, Raia und Nataşa arbeiten als Putzfrauen in Wien bzw. Rom, um mit dem verdienten Geld ihren Familien in der Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen.
Ihr Schicksal gewinnt an Dramatik im Vergleich zum Leben der Familie Berindea, zumal die Frauen während der insgesamt siebenjährigen Dreharbeiten illegal im Gastland lebten und Reisen in die Heimat nur unter schwierigsten Bedingungen möglich waren. Regisseur Ed Moschitz und Aurică Chihai, eine seiner Protagonistinnen, reisten eigens für die Aufführung beim Astra-Filmfestival nach Hermannstadt/Sibiu.
Das Publikum zeigte sich berührt von den Geschichten der drei Mütter, die für ihren Traum ihre Familien verließen. Im Heimatdorf der Frauen, in Cociulia im Süden der Republik Moldau, wächst die Mehrzahl der Kinder ohne Mütter auf. Berührend ist die Szene, in der die Klassenlehrerin jedes Kind fragt, wo seine Eltern arbeiten – kaum eines lebt mit beiden Elternteilen. Natürlich bleibt der Fortgang der Frauen nicht ohne Folgen. Die patriarchalisch erzogenen Männer müssen für die Kinder und die Haushalte sorgen. Die seltenen Besuche zuhause werden von allen Beteiligten ausgiebig genossen.
Die Kamera von Moschitz fängt diese gefühlsgeladenen Momente intensiv ein. Aber auch die Schattenseiten dieses Lebens bleiben nicht ausgespart. Während die Frauen im Westen eine andere Welt kennenlernen und sich weiter entwickeln, bleiben die Männer die alten. Konflikte entstehen zwangsläufig. Im Extremfall enden diese tragisch, wie im Falle von Chihai, deren Ehemann nach zwei Jahren Trennung den Freitod wählt. Der Film führte zu einem breiten Medienecho in Westeuropa und gewann den Hauptpreis beim diesjährigen „One World“ Menschenrechtsfilmfest in Brüssel.
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Dokumentarfilme über das Phänomen der Arbeitsmigration:
„Aici, … adică acolo“ (2012) von Laura Căpăţână Juller
„Mama Illégal“ (2011) von Eduard Moschitz
„Podul de flori“ (2008) von Thomas Ciulei
„Singur acasă - o tragedie romanească“ (2010) von Ionuţ Cărpătorea
„Familia“ von (2010) von Alberto Herskovits und Mikael Wistroem