Dr. Ilie Schipor ist Militärhistoriker, geboren 1952 in Ober-Wikow/Vicovul de Sus in der Südbukowina. Stabsoffizier, Diplomat, war zehn Jahre in Moskau als Ministerialrat an der Botschaft Rumäniens (2009-2019). Lebt als Oberst i. R. im Unruhestand in Bukarest. In diesem Buch, das er „dem Gedenken“ all jener widmete, „die 1945-1956 den Leidensweg der Deportationen und Verhaftungen erdulden mussten“, hat er das gemacht, was bisher keiner so gründlich und vielseitig erforscht hat in Moskauer Archiven – auch in denen des sowjetischen Geheimdienstes, im Militär- und im Militärhistorischen Archiv-, Dokumentensammlungen, die bis dahin für Ausländer teils nicht offen waren und zu denen er jetzt sehr wahrscheinlich nicht mehr Zugang hätte.
Der Forscher hat Tausende Dokumente ausfindig gemacht, die relevant sind für die Deportationspolitik der damaligen Sowjetunion (eine unionsinterne Praxis seit 1920) und erstrangig sind für die Klärung der Gesetzeslage über die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie der „Internierten“ (Volksdeutsche Zwangsarbeiter), wobei es nicht nur um Deutsche ging und nicht nur um ethnisch deutsche Staatsbürger Rumäniens, sondern um Volksdeutsche aus allen Nachbarländern Rumäniens, von Bulgarien, Jugo- slawien und Ungarn, bis hin in die entfernteren Tschechoslowakei und Polen.
Lange Vorbereitungen in Moskau
Die sogenannten Volksdeutschen waren schon lange vor der Deportation und dem Vormarsch der roten Armee durch die genannten Länder im sowjetischen Augenmerk. Schipor bringt dazu als Belege: die Planungsdokumente ab 1943, also lange vor der Stalin-Order Nr. 7161ss/16.11. 1944, auf die schon der österreichische Kriegsfolgen-Forscher Prof. Dr. Stefan Karner vom Grazer Boltzmann-Institut in seinem wichtigen Buch „Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956“ hingewiesen hatte (Oldenburg Verlag Wien München 1995).
Zu den weniger bekannten Akten aus der Zeit kurz vor den Aushebungen, ausgefolgt von rumänischen Regierungsstellen, brachte der Historiker aus dem Moskauer Russischen Staatlichen Militärarchiv u. a. ein für die Deutschen in Westrumänien aufschlussreiches Dokument mit, das von der Direktion für Sicherheit und öffentliche Ordnung der Generalinspektion der Gendarmerie dem Innenministerium Rumäniens und den Sowjets bzw. der sowjetischen Kontrollkommission in Bukarest vorgelegt wurde, unter dem Titel „Dossier mit Vorschlägen für Operationen, die auf dem Gebiet des Banats und in den Kreisen Arad und Hunedoara zur Beseitigung von Spionage und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Hinterland der kämpfenden Armee durchgeführt werden sollen“ (registriert in Moskau am 17. Dezember 1944). Im Kern wird darin festgelegt, welche Volksdeutschen in Westrumänien verhaftet und interniert werden sollten, es handelte sich praktisch um den Großteil der erwachsenen deutschen Bevölkerung. Zudem sollte „Die gesamte Bevölkerung ethnisch deutscher Abstammung vor Ort (Anm. also in den Ortschaften) festgesetzt“ werden; weiter, dass von Deutschen geführte Geschäfte/Unternehmen in Zukunft nur von Rumänen rumänischer Staatsbürgerschaft geführt werden dürfen und dass „allen rumänischen Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit alle bei ihnen vorhandenen Radios und Telefonapparate beschlagnahmt werden sollen“. Die mitgelieferte Analyse zur deutschen Gemeinschaft in den fünf westlichen Regionen umfasst auch eine zahlenmäßige Auflistung der Amtsträger der Deutschen Volksgruppe, die interniert werden sollten.
Die meisten Verschleppten aus dem Banat
Der Historiker stellt die Deportationen in den europäischen und historischen Gesamtkontext, legt aber den Schwerpunkt gewollt und gezielt auf die Bezüge zu Rumänien und die Internierung von Deutschen aus Rumänien. Der militärische Hauptstab zur Vorbereitung und Durchführung der Deportationen aus den fünf erwähnten Ländern war in Bukarest eingerichtet, das auch, weil die meisten erfassten Volksdeutschen in Rumänien lebten. Sein Buch bringt Klärung zu den früher publizierten Zahlen, da in Veröffentlichungen in der Bundesrepublik Deutschland von bis zu 100.000 Rumäniendeutschen ausgegangen wurde. Er belegt, dass von den tatsächlich Inhaftierten bzw. auf den vorgefertigten Listen aus Rumänien (80.000 Namen) zuletzt 67.341 Personen für die Aufbauarbeit erfasst, aber effektiv 68.001 in Arbeitslagern interniert wurden. Der Zahlenunterschied entstand infolge der entlassenen rumäniendeutschen Militärangehörigen aus den rumänischen Heeresverbänden. Zuletzt waren es 69.332 bis zum 3. Februar 1945/Anhang Nr. 13 bei Schipor.
Diese Dokumentation zeigt auf, dass aus dem Banater Raum die meisten Deutschen verschleppt wurden, nämlich 46.418 Personen, weit mehr als die Hälfte der aus Rumänien Internierten. Etwas überraschend ist das Zahlenverhältnis Männer-Frauen, nachdem vermeintlich und laut Heimatbüchern mehr Frauen verschleppt wurden als Männer. Insgesamt waren es aus Rumänien jedoch 35.381 Männer und 32.820 Frauen und Mädchen. Das lässt sich damit erklären, dass die Altersspanne bei den Männern eine größere war, oft auch 16-jährige mitgenommen wurden, wie ursprünglich geplant und in der amtlichen Veröffentlichung aus der Bukarester Zeitung „Scinteia“ vom Januar 1945 ersichtlich ist.
Gesamtzahl Deportierter aus Südosteuropa
Ungenau waren bisher desgleichen die Gesamtzahlen zu den deportierten Volksdeutschen aus dem damaligen Jugoslawien, die Schipor (Dokument vom 31. Januar 1945) mit 10.935 beziffern konnte, davon 7243 Frauen und 3692 Männer. Aus dem damals noch Frontgebiet Ungarn wurden in 19 Güterzügen 26.704 Volksdeutsche abtransportiert (in ungarischen Quellen werden viel höhere Zahlen angeführt), aus Bulgarien waren es 75, anderen Quellen gaben bis zu 500 an, aus der Tschechoslowakei konnten aus dem kleinen „befreiten“ Teil 215 Volksdeutsche deportiert werden.
Wenn in der veröffentlichten Ankündigung zur Gedenkveranstaltung des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm vom 18. Januar 2025 von rund 90.000 verschleppten Donau-schwaben geschrieben wird, so lag die „Zahl der bis zum 31. Januar zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion entsandten Zivilisten deutscher Volkszugehörigkeit aus Südosteuropa“ laut streng geheimen Bericht des zuständigen Leiters der Aktion, NKWD-Oberst Pawel Rodionowitsch Efremow, vom 31. Januar 1945 genau bei 105.930. Die Zahlen allein belegen nur einen Aspekt, es ist jedoch ein großer, wesentlicher Unterschied von über 10.000 Betroffenen (Schipor Seite 111 und Kopie des russischen Originals im Anhang). Die Statistik vom 3. Februar 1945 belegt dann sogar 112.480 Deportierte (Dokument Anhang 13, S. 120).
Was der Militärhistoriker in seinem Buch erstmals veröffentlicht, sind u. a. eine Liste der Bahnhöfe, in denen die Inhaftierten ausgeladen wurden, ein Verzeichnis Namen und Orte der wichtigsten Arbeitsbataillone, in die diese eingegliedert wurden, eine Liste ehemaliger Friedhöfe bzw. Begräbnisstellen im ganzen großen Raum der Sowjetunion, in denen Deportierte beerdigt oder verscharrt wurden. Vielleicht wollen Nachfahren das wissen! Ergänzt werden in dem Buch die Listen der Arbeitslager, erstmals bringt die Dokumentation nach Arbeitslagern getrennt Listen-Beispiele mit Sterbefällen (Banater Bergland), mit Namen, Geburtsjahr, meist auch Wohnort und Sterbejahr dazu. Erschütternd die Zahl der mit aufgenommenen in den Lagern geborenen und verstorbenen Kinder (hier Bsp. Wolfsberg/G˛râna), die in den Heimatbüchern und Ortschroniken verständlicherweise meist fehlen.
Status: schlechter als Kriegsgefangene
Bei früheren Treffen und Tagungen in Zusammenhang mit den Deportationen von Rumäniendeutschen nach der politischen Wende in Rumänien war ein strittiger bzw. ungeklärter Aspekt der Status, den die Verschleppten in der Sowjetunion hatten, Internierte oder Kriegsgefangene. Eine klare Antwort gab bereits Prof. Karner, der in den 90er Jahren mit seinem Team in Moskauer Archiven geforscht hat. Schipor zeigt auf, weshalb die Deportierten den Internierten-Status hatten, durch den sie schlechter gestellt bzw. versorgt wurden als die Kriegsgefangenen. Das hatte mit der Zuständigkeit der höchsten Unionsbehörden zu tun, z. B. Kohlebergbauministerium und Stahl/Hüttenindustrie.
Rolle der Rumänen
Weitere kontradiktorische Debatten gab es damals – vor allem auch seitens Betroffener – über die Rolle bzw. den Beitrag der damaligen rumänischen Regierung und der Landesbehörden (Polizei, Militär) bei der geheimen Vorbereitung und Durchführung der Zwangsverschleppung. Auch dazu bringt Dr. Schipor die klärenden Dokumente von sowjetischer und rumänischer Seite auf höchster Ebene. In der Durchführung auf lokaler Ebene verlief die Aktion jedoch sehr unterschiedlich, hier konnten und haben örtliche Vertreter mitentschieden. Aus den Verordnungen und sowjetischen Befehlen zum Verfahrensablauf der Deportation geht beispiels-weise hervor, dass in den Dörfern die zu internierenden Deutschen „von rumänischen Gendarmen und Soldaten“ (Zitat) ausgehoben werden sollen unter der Kontrolle sowjetischer Einsatzkräfte.
Je ein separates Kapitel widmet der Forscher der Haltung der rumänischen Regierung der Deportation gegenüber bzw. den Versuchen von rumänischer Seite, Inhaftierte vor der Deportation zu befreien oder aus der Verschleppung zu entlassen. Die Erfolge waren minimal. Ähnlich war es bei den Versuchen von ethnischen Landesverbänden (Armenier, Juden) und ausländischen Missionen in Bukarest. Erfolgreicher waren die Interventionen der Nuntiatur, durch die über 100 Ordensschwestern und der Großteil der betroffenen katholischen Geistlichen von der Aushebung verschont blieben, Schipor führt Namen von katholischen Priestern an, für die die Bitte der Nuntiatur zu spät kam.
Keine Ungarn, aber 8000 Reichsdeutsche
Offen lässt Schipor und bleibt auch für mich weiterhin die von mir wiederholt aufgeworfene Frage, wie es dazu kam, dass die von den Sowjets verlangten ethnisch ungarischen Staatsbürger Rumäniens dann doch nicht deportiert wurden, obwohl Listen angefordert und die Listen anscheinend angelegt worden waren.
Ursprünglich hatten die Sowjets u. a. Listen mit allen Volksdeutschen von 16 bis 50 Jahren angefordert. Das waren in den erwähnten Ländern Mitte Dezember 1944 über eine halbe Million Volksdeutsche, im Dokument für Stalin genau 551.049 Deutsche, die absolute Mehrheit davon in Rumänien: 421.846, in Jugoslawien 73.572, in Ungarn 50.292 arbeitsfähige zwischen 17 und 45 Jahren. Zu der halben Million erfassten Personen zählten als kleiner Anteil auch „Reichsdeutsche“, in Rumänien immerhin fast 8000, die bereits in 15 Lagern im Inneren des Landes interniert waren, in Jugoslawien sollen es 16.804 gewesen sein, alle auch bereits in Lagern festgehalten.
Repatriierung
Ausführlich behandelt der Autor anhand der Archivunterlagen die Themen Repatriierung von Deportierten, aufgeschlüsselt auf die Jahre 1945 – 1949, und die Sterberaten. Die Zahlen diesbezüglich sind keine endgültigen, weil die Toten während der Transporte und unmittelbar danach nicht erfasst sind. Schipor schlussfolgert, dass mehr als 15.000 aus Rumänien stammende Zivilisten in der Deportation verstorben sind. Untersucht hat er dazu die Ursachen der hohen Sterblichkeit, erstmals erwähnt wird von ihm die Existenz von „Kindereinheiten“ (Bataillone) und nennt namentlich eine 13-jährige Elisa Stadler aus Radautz/R˛d˛u]i (Bukowina), die mit der Familie deportiert worden war und erst 1955 entlassen wurde infolge eines Urteils wegen angeblicher Unterschlagung.
Besondere Schicksale
Ein Sonderkapitel widmet der Historiker den Themen „Verurteilte, Geflüchtete und Tote“, also besonderen Schicksalen, und führt einige Fallbeispiele an, darunter mehrere Siebenbürger und Banater Frauen und Männer mit hohen, langjährigen schweren Strafen in „Arbeitserziehungslagern“.
Kein Gedenktag in Rumänien
In Verbindung mit der Buchpräsentation und den vielen Gedenkveranstaltungen in Rumänien, Deutschland und Ungarn sei darauf verwiesen, dass es in Ungarn am 19. Januar einen offiziellen Deportations-Gedenktag gibt, in Polen wird alljährlich im September mit einem offiziellen Sibirien-Tag der Zwangsverschleppungen gedacht. In der rumänischen und bundesdeutschen Gedenkkultur haben diese Ereignisse ihren Platz so noch nicht bekommen.