Während die gesamte cineastische Welt den bald ins Haus stehenden Oscar-Preisverleihungen entgegenfiebert, wo filmische Mainstreamproduktionen mit explizit amerikanischer Thematik wie „12 Years a Slave“ oder „American Hustle“ den Löwenanteil der Academy Awards einheimsen dürften, worauf die kürzlich vergebenen Auszeichnungen der Screen Actors Guild (SAG) bzw. der Hollywood Foreign Press Association (HFPA) jetzt schon hindeuten, ist nun wieder ein Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier in die Kinos gekommen, der sich nicht nur dem Mainstream versagt, sondern auch aus vielen anderen Gründen im Stechpalmenwald des amerikanischen Filmtraums keine Chance auf Anerkennung hätte.
Der Film „Nymph()maniac“ ist der dritte Teil der sogenannten Depressions-Trilogie des dänischen Meisterregisseurs, die mit „Antichrist“ im Jahre 2009 ihren Anfang nahm, mit „Melancholie“ im Jahre 2011 fortgesetzt wurde und nun mit den beiden Teilen von „Nymph()maniac“ ihren Abschluss gefunden hat. Wegen seiner Gesamtlänge von fünfeinhalb Stunden wird der Film in zwei Teilen gezeigt, wobei der zweite Teil erst im Februar in die rumänischen Kinos kommen könnte.
Eine Enttäuschung muss der Kinobesucher allerdings schon vor dem Einsetzen der Filmhandlung verkraften, denn die beiden Teile „Vol. 1“ und „Vol. 2“ stellen gekürzte, zensierte und vom Regisseur nicht einmal ausdrücklich autorisierte Versionen des Gesamtfilms dar. Der Zuschauer bekommt unter dem Strich also anderthalb Stunden weniger von der eigentlichen Filmdauer geboten und muss zudem rätseln, was ihm die anonymen Zensoren vorenthalten haben. Erst im Laufe dieses Jahres wird eine unzensierte Originalfassung von „Nymph()maniac“ in Gesamtlänge in die Kinos kommen, was gewiss der Logik einer erfolgreichen Verkaufsstrategie folgt, dafür aber in Kauf nimmt, dass der Zuschauer sich gegängelt oder gar bevormundet fühlt.
Ein Grund für dieses frivole Versteckspiel ist gewiss der sogenannte explizite Inhalt des Films, wie er auch schon in „Antichrist“ oder in früheren Filmen Lars von Triers zu gewärtigen war. „Nymph()maniac“ ist kein Pornofilm, wenn man nicht bereits die filmische Wiedergabe unverhüllter Geschlechtsteile und die freizügige Darstellung sexueller Handlungen als Pornografie bezeichnet. Im Abspann wird mit einer gewissen Bemühtheit denn auch ausdrücklich betont, dass sämtliche Penetrationsszenen des Films von Pornodarstellern gedoubelt wurden. Um die mit Lars von Triers Film aufgeworfene Frage nach Pornografischem in der Kunst durch einen Vergleich mit der Literatur zu beantworten: „Nymph()maniac“ ist genauso viel oder genauso wenig ein pornografisches Werk wie Elfriede Jelineks Roman „Lust“.
Die Hauptdarstellerin von „Nymph()maniac“ ist Charlotte Gainsbourg, wie auch schon in den ersten beiden Teilen der Depressions-Trilogie des dänischen Regisseurs. In „Vol. 1“ tritt sie als die Protagonistin Joe, allerdings nur in Gestalt der Erzählerin der Geschichte der jungen Joe, deren Rolle von Stacy Martin verkörpert wird, in Erscheinung. Ihr Gesprächspartner, ‚Beichtvater’ und maieutisches Gegenüber ist Stellan Skarsgård als Seligman, der außer in „Melancholia“ noch in einigen weiteren Filmen Lars von Triers mitgewirkt hat. Bereits die Dialoge zwischen diesen beiden Meisterschauspielern, in ruhigem Ton mit leiser Stimme eindringlich vorgetragen, als handle es sich um die distanziert-intellektuelle Dissektion einer Biografie, machen den Film „Nymph()maniac“ zu einem sehenswerten Kinoereignis.
Zwischen diesen Dialogszenen, in denen Seligman die geschundene und aus Gründen der Rekonvaleszenz im Bett liegende Joe gleichermaßen umsorgt wie ausfragt, findet dann die eigentliche Filmhandlung statt, und zwar in fünf chronologisch angelegten Episoden mit den Titeln: „The Compleat Angler“ (Der vollkommene Angler), „Jerôme“, „Mrs. H“, „Delirium“ und „The Little Organ School“ (Die Kleine Orgelschule).
In der ersten und in der letzten Episode von „Vol. 1“ entstehen dabei grandiose Metaphern für Joes nymphomanes Verhalten, das von ihr selbst moralisch verurteilt und von Seligman pathologisch gedeutet, also gerade nicht als souveräner Ausdruck einer freien Sexualität gewertet wird, sondern vielmehr als zwanghafte Reaktion auf Depressionen und Phobien wie z. B. die Angst vor Einsamkeit (Isolophobie) betrachtet werden muss.
Das Angeln von Fischen, wie es der englische Biograf Izaak Walton in seinem 1653 entstandenen Werk „The Compleat Angler or a Contemplative Man’s Recreation” beschreibt, wird in „Nymph()maniac“ zur Metapher für das ‚Angeln’ der unterschiedlichsten Sexualpartner durch den promisken Teenager Joe, so wie Bachs Kunst der Polyphonie in einer Triosonate aus seinem „Orgelbüchlein“ zu einer Metapher wird für den Philobatismus der mittlerweile älter gewordenen Protagonistin, die in der Vielstimmigkeit ihres Begehrens doch immer nur die eine Harmonie sucht, die sie freilich, in radikalem Gegensatz zu Bachs vollendeter Kompositionskunst, niemals findet. Nicht von ungefähr wird der Tritonus, das Teufelsintervall, in „Nymph()maniac“ pointiert der göttlichen Harmonie gegenübergestellt.
Die Episode „Delirium“, die in einem Krankenhaus spielt und ganz in Schwarz-Weiß gedreht ist, hat das Sterben von Joes Vater, grandios verkörpert von Christian Slater, zum Inhalt. Während Joe am Sterbebett des Vaters ruhig und beherrscht bleibt, bewältigt sie in den kurzen Pausen, während derer sie durchs Spital irrt, ihren Schmerz durch wahllosen Sex mit Patienten und Krankenhauspersonal. In diesen beeindruckenden Szenen, in denen nur Joes Gesicht gezeigt wird, auf dem die Lust gänzlich der Verzweiflung gewichen ist, wird deutlich, dass das sogenannte Explizite in „Nymph()maniac“ nur akzidentellen, aber keinen substanziellen Charakter hat, eine Erkenntnis, die weite Teile des Films selbst wiederum in Frage stellt.
Grandios sind auch der Humor und die Komik, die manche tragische Geschehnisse begleiten, etwa wenn Mrs. H (Uma Thurman) mit ihren drei Söhnen in Joes Wohnung erscheint, um den Vater ihrer Söhne für sich und ihre Familie zurückzugewinnen, während Joes nächster Lover bereits mit einem Blumenstrauß in der Hand im Türrahmen steht. Man darf gespannt sein, wie sich das angelisch-diabolische Vexierantlitz Stacy Martins in „Vol. 2“ in Charlotte Gainsbourgs Gesichtszügen fortsetzen und weiterentwickeln wird. Vielleicht wird man dann mit Kleists Worten aus dessen Novelle „Die Marquise von O.“ über Joe sagen müssen, sie würde uns möglicherweise nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn sie uns nicht, bei ihrer ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.