Bischof in Zeiten von Verfall und neuer Verheißung

Christoph Kleins großes Werk „Die Gesamtkirchenvisitation der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien 1990-2010“ bietet eine einzigartige Quelle zur Geschichte der Kirche in seiner Amtszeit

Nah an den Menschen: Bischof Christoph Klein im Gemeindesaal von Bulkesch im Gespräch mit damaligen Kuratoren der Kleinen Kokel 2007. Zu sehen sind Petrus Kirschner (Taterloch), Fritz Zickeli (Bulkesch) und Anna Miess (Schönau). Fotos: Jürgen Henkel

Bischof Christoph Klein bei einer Veranstaltung von „Healing of Memories“ (HoM) mit Vertretern der der Griechisch-Katholischen Kirche, der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Reformierten Kirche während der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung (EÖV3) in Hermannstadt 2007. Links Moderator Pfarrer Dieter Brandes

Von 1990 bis 2010 war Christoph Klein Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien. Es war nach der Reformationszeit die wohl dramatischste Epoche rasanten Wandels in dieser Kirche, beginnend unmittelbar nach der Revolution vom Dezember 1989. Viele im In- und Ausland rechneten unverhohlen mit dem nahen Ende der Kirche. Der größte Teil der Gemeindeglieder entschied sich für die Auswanderung nach Deutschland oder Österreich, zurück blieben bis heute weiter schrumpfende Restgemeinden. Hatte die Kirche während der Zeit der kommunistischen Herrschaft nicht nur religiöse, sondern auch kulturelle und sprachliche Heimat geboten, musste sie nun motivierende Antworten auf Fragen nach ihrer Zukunftsfähigkeit finden. 

Eine überaus wertvolle und bis heute viel zu wenig gewürdigte Veröffentlichung von Christoph Klein über seine Amtszeit als Bischof stellt sein Werk aus dem Jahr 2018 mit dem Titel: „Die Gesamtkirchenvisitation der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (1990-2010)“ dar. Der Schmöker bietet auf 760 Seiten eine einzigartige Quelle zur Geschichte der Kirche in jener Zeit. Es versammelt nach Jahren chronologisch sortiert zunächst die Visitationsberichte des Bischofs, der es sich gerade wegen des großen Exodus der meisten Gemeindeglieder seit 1990 zur Aufgabe gemacht hatte, sämtliche Gemeinden zu besuchen. Waren solche Kirchenvisitationen in früheren Zeiten vor allem Aufsichts- und Kontrollbesuche, so wandelte sich Form, Ritual und Inhalt dieser Gemeindebesuche in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit primär zu Seelsorge- und Trostbesuchen. 

Mit unbeirrbarem Optimismus, von tiefem Glauben geprägter Zuversicht, großer Offenheit für die Zukunft und unbestechlichem Instinkt für das unumkehrbar Verlorene wie das in jenen Jahren daraus folgend unabdingbar Notwendige hat Christoph Klein diese Zeit gemeistert und seiner Kirche bei allem zahlenmäßigem Niedergang, verfallenden Kirchen und vorherrschenden Pessimismus stets neue Perspektiven aufgezeigt. Er wurde zum Bischof in Zeiten von Verfall und neuer Verheißung, zu einem wahren Hirten seiner Kirche unter widrigsten Umständen. 

Das Bischofsamt bestimmte besonders in den 1990er Jahren neben der Aufgabe der Kirchenleitung vor allem der Dienst der Seelsorge, wie hier deutlich wird. Persönlich berührt und buchstäblich als Seelenhirte mit-leidend, schildert Klein feinfühlig und mit großer Empathie in seinen Visitationsberichten die düstere und traurige Stimmung und Atmosphäre jener Jahre in den angesichts der Massenauswanderung binnen kürzester Zeit traumatisierten Gemeinden. Er erzählt von Begegnungen mit weinenden Gemeindegliedern und Kuratoren, die oft auf bereits gepackten Koffern saßen. 

Der Leser spürt zwischen den Zeilen den Schmerz und das Trauma der Menschen vor Ort über diesen vorher in dieser Form unvorstellbaren Exodus, gerade angesichts der großen Vergangenheit dieser Kirche und ihrer Gemeinden. Die Visitationsberichte sind an dieser Stelle ausführliche bischöfliche Augenzeugenberichte der Auswanderung und des Bemühens um Trost und Stärkung der verbliebenen Seelen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten. 

Hinzugefügt sind dem über die Jahrzehnte zahlreiche weitere aussagekräftige Berichte kirchlicher Amtsträger. Dazu zählen etwa Berichte verschiedener Bezirksdechanten, die Einblicke in die Situation auch der Kirchenbezirke geben, aber auch Einzelberichte besonderer Gemeinden wie Bukarest, Berichte von Eginald Schlattner aus der Gefängnisseelsorge, Berichte zur Evangelischen Akademie Siebenbürgen, zum Teutsch-Haus, zum Archivbestand sowie zur Jugendarbeit, zu Diakonie, Gemeindearbeit unter Roma oder auch der Pflege der Kirchengebäude (Hans-Jürgen Binder). Diese ergänzen und vervollständigen die Bischofsberichte. 

Beides zusammen ergibt eine sinnvoll geordnete und schier unerschöpfliche Sammlung an Fakten und Hintergrundinformationen zur Lage und Entwicklung der Kirche und der Kirchengemeinden in jener Zeit unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen und Handlungsfelder der Kirche. Für die kirchenhistorische Einordnung außerordentlich hilfreich erweist sich die vorangestellte Einführung in Geschichte, Wesen und Aufgabe der Kirchenvisitationen von der Urkirche bis zur Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (S. 17-31), die nachgerade eine eigenständige Studie darstellt.  

Auch wenn die Berichte manchmal durchaus sehr persönlich geprägt sind – etwa bei Eginald Schlattner – , so ergibt dies trotzdem in der Gesamtschau eine auch wissenschaftlich ausgesprochen relevante Dokumentation und bemerkenswerte Quellensammlung erster Güte, die der Nachwelt eine Zeitreise durch jene Jahre erlaubt. Wohl kein Buch dokumentiert die kirchlichen Ereignisse und Entwicklungen in der Evangelischen Kirche A.B. jener zwanzig Jahre so authentisch, punktgenau und hintergründig wie dieser Band. Und wer diese Zeit und Geschehnisse selbst miterlebt oder sogar mitgestaltet hat, den kann dieses Buch wohl kaum kalt oder teilnahmslos lassen. Zu viele Erinnerungen an Orte und Personen, Begebenheiten und persönliche Erfahrungen und Erlebnisse verbinden sich mit der Lektüre.  
Was diese Visitationsberichte von Bischof Klein über die Erinnerungskultur und als Quelle für Forschung und Zeitgeschichte hinaus geistlich noch so wertvoll macht, sind aber nicht nur die so konzentriert darin festgehaltenen Fakten und die Würdigungen der einzelnen Gemeinden in ihrem Überlebenskampf vor Ort, sondern auch die geistlich-theologischen Bewertungen. Klein schildert schonungslos die Situation, ohne irgendetwas zu beschönigen und lässt die Leser teilhaben am Zerbrechen „unserer Welt“ (S. 125), das sogar zum Gedanken an einen direkten Anschluss an die EKD geführt hatte (vgl. S. 128). Und doch erkennt er auch die ganz besonderen Verheißungen Gottes für seine Kirche in dieser Zeit und Lage.

Christoph Klein benennt die Tiefenschärfe des Wandels, wenn er etwa festhält: „An der Diakonie lässt sich die Öffnung unserer Kirche ablesen, die über 800 Jahre in sich geschlossen gelebt hat.“ (S. 144) Ähnliches gelte für das Theologische Institut, das über vierzig Jahre lang vor allem den eigenen Pfarrernachwuchs gesichert habe, jetzt aber auch für in- und ausländische Gaststudenten offen sei. Auch das Ringen um die Sprachöffnung für Rumänisch wird angesprochen.  

Er nennt immer wieder statistische Daten zu den dramatisch sinkenden Gemeindegliederzahlen der Gesamtkirche und auch der Zahl der Geistlichen und Pfarrstellen,  markiert aber auch Beobachtungen des Neuanfangs und Aufbruchs. Sichtbar wird dies unter anderem in der Zahl von acht Ordinationen im Jahr 2002 (Dr. Daniel Zikeli, Wolfgang Wünsch, Egon Wonner, Bruno Fröhlich, András Pál, Alfred Dahinten, Hildegard Depner und Gerhard Servatius; vgl. S. 391). Überhaupt waren drei Viertel der am Ende seiner Amtszeit 2010  dienenden Pfarrerinnen und Pfarrer von ihm ordiniert worden (vgl. S. 601).  

Im Jahr 2000 zog er erstmals eine Bilanz der Visitationen, wenn er am 12. Mai vor dem Landeskonsistorium die Bedeutung der Besuche ausführt. Die Berichte darüber zielten darauf ab, „Beobachtungen, Situationsschilderungen, Einschätzungen, Ergebnisse festzuhalten, die etwas von der Geisteshaltung, der seelischen Verfassung, der konkreten Lage von Gemeinden und einzelnen Personen widerspiegeln und somit Dokumente darstellen, die für spätere Gemeinden aufschlussreich sind.“ (S. 332) 

Die Statistik der Gemeindebesuche zwischen 1990 und Mai 2000 ist durchaus beeindruckend. Klein kommt auf 401 „Ausfahrten“, von denen 343 protokollarische Gemeindebesuche im Sinne von Visitationen waren. Dabei hatte er als Bischof 252 Gemeinden – und damit nahezu alle – besucht (eine Gesamtübersicht dazu mit genauen Besuchsdaten S. 731-734). Stets stand die geistliche Begegnung mit der Gemeinde im Vordergrund: „Mittelpunkt jedes Besuches ist bis heute der Gottesdienst geblieben oder – in Restgemeinden – die Andacht, wo der Bischof predigt, der Landeskirchenkurator ein Grußwort spricht“ (S. 335). Im Blick auf die Pfarrer macht er deutlich: „Die Bischofsbesuche sind vor allem dem geistlich-seelsorgerlichen Dienst der Tröstung und Stärkung, der „consolatio fratrum“, vorbehalten. Sie haben weniger eine Kontrollfunktion, auch wenn die Kirche, das Pfarrhaus, das Amtszimmer und die Archive, der Friedhof oder bestimmte Baulichkeiten regelmäßig besichtigt werden.“ (S. 335) 

Über allem Schmerz über Vergehendes blicken die vielen Texte dieses Buches dann doch auch auf Zukunftsprojekte der Kirche, so etwa die Evangelische Akademie Siebenbürgen/EAS oder das Kultur- und Begegnungszentrum Friedrich Teutsch mit dem neuen Landeskirchlichen Museum und dem ebenfalls neuen Zentralarchiv. Auch zu diesen Phänomenen des Neuanfangs erfährt der Leser hier sehr viel – auch das gehört zur Bilanz von Christoph Klein als Bischof. Wobei die EAS in Eigeninitiative gegründet wurde und wirkt. 
Dass Christoph Klein als Theologieprofessor Systematische Theologie lehrte, wird auch an der Systematisierung seiner Erkenntnisse und der durchdachten Gliederung des Buches deutlich. Er unterteilt die hier referierten Jahre hintergründig in drei Phasen: „A. Besichtigung der Situation vor Ort nach der historischen Zeitenwende 1989 (1990-1994)“, S. 32-174; „B. Ausschau nach Zukunft beim Abschied von der einstigen „Volkskirche“ (1995-2000)“, S. 175-365; und „C. Neuordnung in einer Diasporakirche (2001-2010), S. 366-621. Dass dabei stets auch das sich wandelnde Verhältnis der Kirche zum Staat und zu den anderen Kirchen in Rumänien sowie die ökumenische Verortung und Einbindung der Evangelischen Kirche im internationalen Umfeld herausgearbeitet wird, stellt einen weiteren Pluspunkt des Buches dar.     

Bereits 2003 benannte Klein die sich entwickelnde Situation jener Jahre seit 1989 als Zusammenbruch, Umbruch und Aufbruch. So sagte er 2003 im Januar bei einer Ansprache: „1990 war die Zeit des Zusammenbruchs, Ende 1990 bis 1994 die des Umbruchs, 1994 – 1998 die Zeit des Aufbruchs und 1998 – 2002 die des Durchbruchs.“ (S. 412) Dem sollte bis 2010 noch einiges folgen, was für die Kirche als Weg von der „Trauerarbeit“ zur Normalität gewertet werden darf. Immer wieder bringt er wichtige Einschätzungen auf den Punkt. Wenn er etwa festhält, „dass wir eine Kirche sind, in der Glaube, Kirche, Kultur, Wissenschaft und Bildung stets eine große Einheit gebildet haben“ (S. 484).  

Christoph Klein hat als Bischof und Hirte seiner Kirche durch sein Wirken in schwierigsten Zeiten ein großes Vermächtnis hinterlassen, das sich in diesem he-rausragenden Werk für Zeitgenossen und Nachwelt gleichermaßen auf beson-ders authentische und faktenbasierte Weise sowie dokumentarisch erschließt. Den Anhang des Bandes runden Darstellungen unter anderem von Daniel Zikeli, Wolfram G. Theilemann und Walther Sinn zur Geschichte der evangelischen Gemeinden außerhalb Siebenbürgens (Gemeinden im Altreich, im Banat und in der Bukowina) und etliche Bilderseiten ab.  


Christoph Klein: Die Gesamtkirchenvisitation der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien 1990–2010 760 Seiten, mit 3 s/w- und 27 farb. Abb., ISBN 978-3-412-50819-7, Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2018 (=Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens Band 36)