Können Moskau und London reibungslos im Tandem laufen? Meist tönt Funkstille zwischen dem Königreich Großbritannien und der Russischen Föderation. Ein saurer Nährboden scheint edle Absichten verdorren zu lassen und erstickt Friedfertigkeit im Keim. Dennoch ist es unfair, Russland für nichts weiter als nur den bösen Nachbarn Europas aus dem Osten zu halten. Fjodor Dostojewskij und Maxim Gorki auf der literarischen Bühne des Zarenreiches und der Kalte Krieg in der noch nicht ausgetrockneten Erinnerung der Welt an die Zeit zwischen Stalingrad und Tschernobyl sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Russlands Sprache und Seele lassen sich nicht in die Ecke verbannen. Regisseur Declan Donnellan und Bühnenbildner Nick Ormerod teilen sich seit bald 40 Jahren die Leitung der internationalen Theaterkompanie ´Cheek by Jowl´ und reisen auch auf Russisch um die Welt. Dreizehn Profis des Puschkin-Theaters Moskau haben am Nikolaustag 2013 in der russischen Hauptstadt die Premiere einer von Donnellan und Ormerod geführten Inszenierung der Komödie „Measure for Measure“ geboten. In den sechs Jahren seither hat das Shakes-peare zugeschriebene Lustspiel auch in Tallinn, Omsk, Oxford, Edinburgh, Madrid, Girona, Danzig, Craiova, Klausenburg/Cluj-Napoca, Sydney und sogar in den US-Metropolen Boston, New York, Washington und Chicago Station in russischer Sprache gemacht.
Das Libretto spielt im erzkatholischen Wien. Mit englischem Zungenschlag nimmt William Shakespeare die unverderbliche Leidenschaft für das Üben von Erpressung und Rache aufs Korn. Ein Stück Theater, das in die Epoche der Erstveröffentlichung des politischen Handbuches „Der Fürst“ von Niccolò Machiavelli hineinspielt und dem alttestamentarisch verbrieften Strategieansatz von ´Auge um Auge, Zahn um Zahn´ auf Herz und Nieren nachspürt. „Maß für Maß“ lautet der deutsche Titel der Komödie, deren bislang letzte Live-Vorstellung in britisch-russischer Koproduktion von Cheek by Jowl und Puschkin-Theater Anfang April 2019 im thüringischen Staatstheater Meiningen zu Gast war. Die Fernsehaufzeichnung der zeitgemäß modern, jedoch nicht avantgardistisch verzerrt gestalteten Inszenierung ist bildlich wie klanglich von erster Güte und wurde am vorletzten Abend der unlängst ausnahmslos online veranstalteten Auflage 2020 des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt/Sibiu (FITS) mit Untertiteln in rumänischer und englischer Sprache ausgestrahlt. Der deftigen Geschichte von Liebe und Hass schadet es nicht im Geringsten, dass Interpretierende aus Moskau und London für die Nachstellung eines Tauschhandels auf historischem Pflaster in den feinen Zwirn des 21. Jahrhunderts schlüpfen. Bis auf die schwarzen Mönchskutten einzelner Personen entscheiden Declan Donnellan und Nick Ormerod sich für Krawatte und messerscharfe Bügelfalten.
Andrei Kuzichev spielt den interimistisch beauftragten Magistrat Angelo und soll über das Verfahren in der Causa des Adeligen Claudio richten, der seine Verlobte Juliet noch vor der öffentlichen Heirat geschwängert hat. Die Rolle des unglücklich verurteilten Bräutigams verkörpert Petr Rykov, dem für das glückliche Ende nach zwei Stunden Zoff und Zank auf der Bühne die Hochzeit mit Anastasia Lebedeva als Interpretin von Juliet vorbehalten bleibt. Allein das aalglatt rasierte Konterfei des nicht integren Angelo zwischen spießigem Beamten-Kurzhaarschnitt, weißem Hemdkragen, blauem Schlips, kantigem Brillenrahmen und schwarzem Anzug könnte bereits den Stoff einer Hauptperson liefern, wäre da nicht Anna Vardevanian als Novizin Isabella in weißem Ordensstaat, die für ihren Bruder Claudio um Gnade fleht und ihrem machthungrigem Gegenüber solange in den Ohren liegt, bis dieser Tacheles redet und sich das dreiste Angebot erlaubt, dem Straftäter die Hinrichtung zu ersparen, wenn sie als dessen Fürsprecherin nur bereit wäre, sich ihm eine Nacht lang hinzugeben.
Isabella und Claudio halten anschließend eine Rücksprache, die sich mit Anna Vardevanian und Petr Rykov zweifelsohne als Schlüsselszene ausnimmt. Eingangs hat Claudio gar nichts am Ehrgefühl und der Weigerung seiner Schwester auszusetzen. Doch schon im nächsten Wort ergreifen ihn Todesangst und der Wille, Isabella zur Lösung seiner Haft zu zwingen, und sei das Mittel hierzu auch noch so entwürdigend. Herzog Vincentio, Arbeitgeber von Angelo, hatte vorgegeben, die Stadt bis auf Weiteres verlassen zu müssen, bleibt aber inkognito als Mönch verkleidet zuhause am Ort des Geschehens und deutet Isabella den rettenden Spielzug an. Schauspieler Alexander Arsentyev leiht dem Herzog den nötigen Trickreichtum, lässt dem lüsternen Magistraten zur Nachtstunde des vereinbarten Stelldicheins im Garten durch Isabella die Augen verbinden und verhilft der vormals verstoßenen Verlobten Mariana, die wegen höherer Gewalt ihre Mitgift und somit auch die Chance auf Wunschhochzeit mit Angelo verloren hatte, zu finalem Glück.
Auf dem Höhepunkt der Täuschung nimmt Vincentio seine Maske ab. Angelo, der sich eben noch in Erfüllung seines niederträchtigen Wunsches wähnte und Claudio trotzdem hinrichten lassen wollte, hat seinen Kredit verspielt und fügt sich auf herzoglichen Druck widerstandslos in die Heirat mit Mariana. Ihre Freude leuchtet im Tanz von Akteurin Elmira Mirel auf. Juliet und Claudio treten ihr Leben zu dritt an und Herzog Vincentio bietet Novizin Isabella die Ehepartnerschaft. Ihre Antwort jedoch steht nicht im Libretto von „Maß für Maß“. Mit dem Instinkt stets fortlaufenden Verhandelns hat William Shakespeare goldrichtig vorgegriffen. Auf Bühnen nach dem Zuschnitt etwa des FITS sagen Partner wie Russland und England unter seiner Schirmherrschaft bereits Ja zueinander. Nur draußen vor dem Theater, da bleibt Verständigung diffizil. Die Last des noch fehlenden Bausteins drückt Stück für Stück nach unten.