Berlin, 24. Juli 2020: Über 100 Lastkraftwagen rollen auf das Brandenburger Tor zu. An den Zugmaschinen sind große Banner befestigt. „Stoppt Preisdumping“, steht darauf. Und: „Rettet das Transportgewerbe“. Auf den Autobahnen Europas tobt ein Preiskrieg, der auf dem Rücken der Fahrer ausgetragen wird. Wer die billigsten Fahrer hat, kann das niedrigste Angebot machen und kriegt den Zuschlag. Dazu gründen Logistikunternehmen in Osteuropa Niederlassungen und lassen die Lkws dann in Westeuropa fahren. Dabei werden die dort vorgeschriebenen höheren Mindestlöhne und Sozialleistungen umgangen. Mittlerweile haben osteuropäische Speditionen über 40 Prozent des europäischen Transportmarktes erobert. Ein Hauptrekrutierungsland für Billigfahrer ist Rumänien. Als EU-Mitglied sind die Formalitäten hier einfach zu handhaben und das Lohnniveau bleibt niedrig.
Temeswar, 8. Dezember 2022: Trotz erfolgreicher Evaluation wird die Aufnahme Rumäniens (und Bulgariens) in den Schengen-Raum abgelehnt. Die Pass- und Warenkontrollen an den Grenzen werden aufrechterhalten. Am Grenzübergang Nadlak/Nădlac II zu Ungarn stauen sich die LKWs kilometerweit. Fahrer verlieren weiterhin Zeit und Geld.
Temeswar, 20. April 2023, ein Parkplatz neben der Theresien-Bastei: Alle einsteigen, bitte! Auf in den LKW und ab auf eine dokumentarische Reise. Rund 50 Begeisterte sind heute wieder dabei. Seit Ende März werden drei Mal wöchentlich interessante Fakten über das Transportgewerbe in Europa sowie über das Leben zweier rumänischer LKW-Fahrer erzählt. „CARGO Berlin-Timișoara“ heißt die dokumentarische Theaterreise, die vom deutschen Rimini Protokoll aus Berlin und dem unabhängigen Theater Basca aus Temeswar/Timișoara koproduziert wurde und die bis Ende Mai Neugierige erwartet, sich auf eine virtuelle Reise zwischen Berlin und Temeswar zu begeben.
In „CARGO Berlin – Timișoara“ sitzen 46 Zuschauer und Zuschauerinnen auf der Ladefläche eines zu einem mobilen Zuschauerraum umgebauten Kühltransporters, der jetzt, statt Schweinehälften, die Geschichten zweier rumänischer LKW-Fahrer transportiert. Dabei wird die zweistündige fiktionale Reise von einem Soundtrack begleitet, der sich live mit der Welt synchronisiert, die draußen vor der Glasscheibe vorbeizieht.
Denis Iancu und Dalian Deac, beide Mitte 20, sind die beiden rumänischen LKW-Fahrer, die mit ihrer authentischen Art und Weise die Zuschauer verzaubern. Ihre Stimmen zittern ab und zu, sie lächeln aufgeregt, dann wieder lachen sie kräftig. „Entschuldigen Sie, bitte! Das war nicht im Skript“, sagt Denis gleich nervös und etwas beschämt. Aber das macht die Story umso authentischer. „Bitte, schnallen Sie jetzt sich an! Wir fahren gleich los“, setzt Dalian fort. Dann steigen sie in die Fahrerkabine und starten. Die Zuschauer bleiben im Trailer wie eine Ware.
Während der rund zweistündigen Fahrt bringen Denis und Dalian kuriose Fakten ans Licht, schildern alles etwas schüchtern, aber humorvoll, und lassen am Ende noch viele Fragen offen: Wie werden wir die LKW-Fahrer ab nun betrachten? Wie schauen wir in Zukunft auf die kilometerlangen Schlagen von LKWs an den Grenzübergängen? Was transportierten denn diese Trucks, an denen wir gerade vorbeifahren? Woher kommen sie und wohin geht die Fahrt?
Langstreckenfahrer sehen die Welt aus zwei Metern Höhe und können mit einem einfachen Tritt 500 PS in Bewegung setzen. Sie sind durch viele Länder gefahren, aber die Städte kennen sie allein von den Straßenschildern her. Ein rumänischer LKW-Fahrer wird mit 3,60 Euro pro Stunde bezahlt. Ein deutscher Kollege bekommt 14 Euro für eine Stunde. Was sie gemeinsam haben? Neben den vielen Stunden auf der Fahrt, Heimweh und Risiken unterwegs, kochen die meisten LKW-Fahrer ihre Mahlzeiten neben ihren Brummis und essen „am Rad“, telefonieren stundenlang mit Familie und Freunden, planen ihr Leben für die Zeit, wenn sie wieder zu Hause sind und überlegen, wann sie ihre Laufbahn als Langstreckenfahrer beenden werden. Die beiden rumänischen Darsteller aus der CARGO-Performance haben diesen wichtigen Schritt bereits vollzogen. Denis arbeitet derzeit in einem Büro in der unmittelbaren Nähe von Temeswar als Manager für die Flotte einer Speditionsfirma. Dalian ist immer noch LKW-Fahrer, er legt aber nur kürzere Strecken innerhalb Rumäniens zurück.
Das Konzept, das nun zum ersten Mal in Rumänien vorgestellt wird, wurde 2006 von CARGO Sofia-X – produziert von HAU Hebbel am Ufer Berlin und dem Goethe-Institut Sofia – bekannt gemacht. In Temeswar wurde das Konzept an die Geschichten der rumänischen LKW-Fahrer angepasst. Die beiden Langstreckenfahrer haben in den letzten Wochen intensiv an der Entstehung dieser Road-Performance gearbeitet: Denis und Dalian haben erzählt, der Dramaturg Andrei Ursu hat daraus einen Theatertext gemacht, Jörg Karrenbauer hat für die Regie und das Skript gesorgt. Nicht nur für die Fahrer war das Theatererlebnis etwas Neues, sondern auch für die Mitglieder des Basca-Theaters.
„Wir haben Kontakt zu einer Welt, jene des Güterverkehrs, aufgenommen, die uns vollkommen fremd war. Es war eine Herausforderung, die beiden Welten zu verbinden, uns gegenseitig kennenzulernen und zu entdecken, was diese Branche ausmacht. Ich bin froh, dass wir bei diesem Projekt viel gelernt haben“, sagt Ana-Maria Ursu, Mitbegründerin des Basca-Theaters und Ko-Produzentin dieser Dokumentarperformance.
Eine Herausforderung war es auch für die beiden LKW-Fahrer, in die Haut eines Schauspielers zu schlüpfen. „Ich war von der Idee ´Theater in Bewegung mit uns am Lenkrad´ sehr begeistert. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, durch dieses Projekt die Welt des Transports zu beleuchten. Die Menschen können so besser verstehen, dass jedes Produkt, das sie in die Hand nehmen, vorher transportiert wird. Wie es geliefert wird und wie es sie erreicht, das ist immer die unbekannte Seite. Unsere Zuschauer zumindest haben es geschafft, zu verstehen und ihre Einstellung diesbezüglich zu ändern“, sagt Denis Iancu. „Ich freue mich sehr, dass ich einen Beitrag zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2023 in Temeswar geleistet habe. Insgesamt 20 Aufführungen wird es bis Ende Mai geben“, fügt Dalian (Dali) hinzu.
Die Aufführung „CARGO Berlin-Timișoara“ ist Teil des Nationalen Kulturprogramms „Temeswar 2023 - Kulturhauptstadt Europas“ und wird von der Stadt Temeswar über das Projektezentrum finanziert. Die Road-Performance kann noch bis zum 27. Mai erlebt werden. Die meisten Aufführungen sind bereits ausverkauft. Karten sind allein noch für die Performance ab Mitte Mai erhältlich. Der Kartenkauf ist von der Plattform iabilet.ro/bilete-cargoberlin möglich.