Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Carmen? Die leidenschaftliche Liebe des Unteroffiziers Don José für die junge, bezaubernde Zigeunerin, die ihm in einer Tabakfabrik in Sevilla begegnet? Ihr zuliebe scheut er nicht einmal Arrest und Degradierung - letztendlich tritt er sogar einer Schmugglerbande bei, verliert aber Carmen, die sich für den Picador Lucas entscheidet. Wütend und eifersüchtig tötet José seine Geliebte, die auf ihr freies Leben nicht verzichten will.
Durch die Musik Georges Bizets zum Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy ist die Novelle von Prosper Mérimée zur Grundlage eines der beliebtesten Werke der Musikgeschichte geworden. Vielleicht weniger bekannt sind die choreografischen Adaptionen der Geschichte. Die hinreißende Opernmusik hat der russische Komponist Rodion Schtschedrin (geb. 1932) umgeschrieben – die Titelrolle war selbstverständlich für seine Frau, die weltberühmte Ballerina Maja Plissezkaja, bestimmt. Die Weltpremiere des Balletts fand in den Sechzigern in Moskau statt.
Dass die so bekannte Carmen mit ihrem feurigen Temperament auch heute noch zu neuen Inszenierungen anregt, beweist die Ballettvorführung, die morgen (12. November, 18.30 Uhr) in der Kronstädter Oper zum ersten Mal gezeigt wird. Zu Musik von Bizet und Schtschedrin, mit musikalischen Ingredienzen von J. Rodrigo, C. Rissuti und M. Pemella, hat der Choreograf und Ballettänzer Ioan Dorin Co{eriu eine eigene Regie gestaltet. Denn es gehört zur Tradition des Internationalen Opern-, Operetten- und Ballettfestivals, dessen neunte Auflage in Kronstadt/Braşov auf Hochtouren läuft, das Publikum mit feinen Events zu überraschen.
Nach einer der Proben Anfang der Woche nahm sich der Regisseur Zeit, um einige Fragen für die ADZ zu beantworten. Ioan Dorin Coşeriu (Jahrgang 1965) ist Absolvent des Choreografie-Lyzeums Klausenburg/Cluj, wo er später auch unterrichtete, und tanzte viele Jahre als Ballettsolist der Rumänischen Oper Klausenburg, bevor er 2001 nach Kronstadt als Ballettmeister kam.
Offen für Neues war er schon immer: „Es ist eine wunderschöne Arbeit, die mir unglaublich viel Spaß macht. Nie habe ich eine Rolle abgelehnt, nie habe ich mir eine Gelegenheit entgehen lassen”, lächelt er. Dem Kronstädter Publikum hat sich Co{eriu zuerst mit klassischen Vorführungen wie „Giselle” von A. Adam oder mit Choreografien zur Musik von J. Strauß („Eine Wiener Geschichte”) vorgestellt. „Man hatte mir schon vor langer Zeit diese Carmen-Aufführung ‘versprochen’, also ist das Projekt schon längst durchdacht”, sagt er.
Ioan Dorin Coşeriu erinnert sich gerne an seine Begegnung mit Maja Plissezkaja – den Moment zählt er zu seinen höchsten professionellen Erfolgen. „Ich war mit dem Klausenburger Ensemble auf Tournee in Westeuropa”, erzählt der Tänzer. „In Deutschland, in einem sehr koketten Theater, kam der Intendant kurz vor dem Beginn der Vorführung in die Kulissen und sagte uns, im Saal seien diesmal besonders vornehme Gäste, darunter Maja Plissezkaja.
Kein einziger von uns hat ihm geglaubt – wir dachten alle, dass er uns nur ‘motivieren’ will, damit wir uns auf der Bühne noch besser konzentrieren. Nach der Aufführung, als ich in der Kabine noch mit dem Abschminkmittel im Gesicht war, klopfte plötzlich jemand an die Tür. Ich öffnete und sie stand vor mir: Maja Plissezkaja selbst! Sie war gekommen, um mich zu beglückwünschen – ich werde es nie vergessen! Schtschedrin muss sie sehr geliebt haben – nur so kann ich mir erklären, wie diese derart perfekte Musik zustande gekommen ist.”
Seinen Enthusiasmus merkt man sofort, auch wenn er tanzt: Ioan Dorin Coşeriu übernimmt die Rolle des Don José in der Inszenierung, die er strikt nach Mérimées Novelle aufgebaut hat. „Ich habe mir keineswegs eine Virtuosität-Show vorgenommen, wollte auch nicht demonstrativ sein oder schockieren, wie es heutzutage leider zu oft getan wird.
Ich wollte ein originelles, modernes, aber zugleich ein schlichtes und publikumsfreundliches Konzept“, sagt er. Ein zweiter Don José schafft einen narrativen Rahmen für das Ballett, indem er sich seines traurigen Schicksals entsinnt – die Rolle des Erzählers spielt Cristian Fieraru, Bariton der Kronstädter Oper.
Zwei Gasttänzer kommen aus Klausenburg - Lucian Bacoiu (Picador Lucas), und István Both (der Offizier), während als „Remendado” Claudiu Buldan aus Bukarest tanzt. Einen bemerkenswerten Auftritt hat auch Iulia Coşeriu als „Ines”. Carmen wirkt in der Interpretation der Kronstädter Ballerina Anca Branea temperamentvoll, streng und sehr überzeugend.
Was auf Anhieb wahrscheinlich nur die Kenner bemerken, ist die Tatsache, dass nicht alle Darsteller Profi-Tänzer sind. An der Vorführung beteiligen sich (selbstverständlich in Nebenrollen) fünf Mitglieder des Opernchors. „Es war eine Notlösung, aber eine, die uns Spaß gemacht hat”, sagt Coşeriu. „Leider haben wir nicht genügend Personal. Es liegt an der Art und Weise, wie die Kultur hierzulande auf allen Ebenen behandelt wird und auch daran, dass Neueinstellungen zurzeit nicht möglich sind. Mit nur drei (männlichen) Tänzern kann man wenig anfangen. Das alles sind jedoch ‘Bremsen’, die nicht an uns liegen.”
Regie war für Ioan Dorin Coşeriu ein selbstverständlicher Schritt: „Auch wenn Tanz ansteckend ist und ich von dieser ‘Sucht’ wahrscheinlich nicht mehr geheilt werden kann, ist es mir schön langsam einfacher, als Regisseur zu arbeiten, als zu tanzen, denn man wird nicht jünger.” Dass er in seiner neuen Rolle den Tänzern viel Freiraum für Kreativität und eigene Ideen gewährt (der Tanz der Zigeunerinnen bei der Stierkampf-Arena ist nicht choreografiert!), merkt man an den intensiven Gefühlen, die von der Bühne strömen: Lebensfreude, Liebe, Leid, Verzweiflung oder Rache und vor allem Freiheit. Wer keine Eintrittskarten für die Premiere reserviert hat – der Saal ist längst ausverkauft! – kann das Ballett am 10. Dezember und während der gesamten Spielzeit sehen.