Wer kennt es nicht, das rasante Durcheinander, das flirrende Hin und Her in akrobatischer Geschwindigkeit, der atemlose Parcours durch die A-Moll-Töne, bis man erschöpft – und sehr schnell – ans Ende kommt und sich fragt. Hat‘s mich erfasst, was weiß ich nun (besser), was klingt nach? Das Interludium „Der Hummelflug“ von Nikolai Rimski-Korsakow aus der Oper „Das Märchen vom Zaren Saltan“ ist ein Bravourstück für Schnellspieler. Toll, aber keine große Musik.
Und so ähnlich ist‘s mit Dana Grigorceas rasantem Prosastück „Die nicht sterben“. Man liest und liest und wird nicht schlauer. Sie ist eine Autorin, die schreiben kann, die die deutsche Sprache atmet und mit ihr behände umgeht. Ihre Muttersprache ist jedoch rumänisch. Sie wurde in Bukarest 1979 geboren und hat im Sturm die Herzen der deutschen Feuilleton-Redaktionen erobert. Umfassend gebildet durch das Studium der Germanistik und Niederlandistik, Auslandsaufenthalte und ausgestattet mit Neugier, Eloquenz und überschäumendem Temperament ist diese famose Autorin ein Wirbelwind in der deutschen Literatur in Deutschland, Schweiz und Österreich. Beinahe hätte sie 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis bekommen, wurde aber noch von Nora Gomringer mit deren Text „Recherche“ abgefangen, die eine noch bessere Performance hatte – ein inzwischen unverzichtbares Kriterium bei Juroren. Grigorcea brachte immerhin den 3sat-Preis mit nach Hause. Und das ist Zürich, wo sie mit ihrem Mann Perikles und ihren beiden Kindern lebt.
Hier legt sie nun ihr viertes Buch vor, das journalistischen Drive hat, kein Wunder, hat sie ja auch noch ein Studium in „Qualitätsjournalismus“ an der Donau-Universität Krems hingelegt. Aus den Prosawerken von Herta Müller, die in doppelter Sprachbürgerschaft deutsch-rumänisch im pannonischen Banat aufgewachsen ist, wissen wir, dass sie die Ceaușescu-Zeit, der Realsozialismus in ihrem Heimatland, nicht loslässt. Fast jedes Werk beleuchtet mit genauem Benennen und stimmigen Metaphern diese Schreckenszeit, auch von Berlin aus. Dana Grigorea schreibt keinen Ceaușescu-Roman, sie schreibt über eine Figur, die dem zauberhaften Rumänien anhängt wie ein Mühlstein: Dracula. Und nur um die Zugänge – literarisch transportiert mit der Suche nach Tante Margot – zu diesem Diktator und Menschenschlächter geht es, journalistisch flott, aber doch chaotisch. Die in der Presse geäußerte Auffassung, diese Dracula-Story sei eine plausible politische Metapher auf den kommunistischen Diktator, geht ins Leere. Das leider ist diese Erzählung, die in weiten Teilen eher ein Bericht ist, aber wohl kaum ein Roman, eben nicht.
Rumänien wird immer – gerade von Deutschland aus – als das Knoblauch fressende Ungeheuer-Land des walachischen Fürsten (und Woiwode) aus dem 15. Jahrhundert, mit Dracula, den man Vlad III., den Pfähler nannte, assoziiert. Wie elend. Und wenn Corona-Impfungen im Dracula-Schloss Bran erfolgen, wird das medial zelebriert. Damit wird das Schwarzmeerland weiter stigmatisiert, das eines der kulturell reichen und anmutigen Regionen in Südosteuropa ist. Und diesem Trend leisten die 24 Proastücke von „Die nicht sterben“ Vorschub. Der Titel wirkt eschatologisch und in Corona-Zeit geradezu beklemmend. Aber die Autorin lotet nicht tief. Im Wikepediaeintrag ist vermerkt, dass sie ja eigentlich „von“ Grigorcea heiße, also aus einer ehedem geadelten Familie stamme. Die Kommunisten hatten den rumänischen Adel dann abgeschafft, auch deren Namensbestandteile. Aber die Autorin hat biographische Erfahrungen eingewoben und es scheint, als lebe sie gedanklich noch in der alten Zeit. Duftig erzählt sie die Sozialisation einer alten Familie und deren Wohn-Interieurs – hier festgemacht in der Villa der Großtante. Wer den Schauer-Roman von Bram Stoker von 1897 liest, erfährt etwas von der Wirkkraft der Literatur, die sich der Mythen bedient. In diesen Prosastücken kommt davon nichts rüber. Es geht auch nicht ums Sterben und die Lebensvorstellungen danach. Dass gruftige Volkslegenden erschrecken können, ist eine Binse. Das märchenhafte Hin- und Herfliegen – gern in Traumsequenzen – von Einfall zu Einfall, von Lesefrucht zu Lesefrucht – bisweilen recht zitatenselig – macht keinen Roman, keine stringente Erzählung. Unfreiwillig haben die Sätze jedoch etwas Bissiges, etwas von Vampiren. Man legt das Buch, den rasanten Hummelflug flotter Episoden rasch zu Seite. Schade. Die Kulturgeschichte Rumäniens hat mehr zu bieten. Und Dana Grigorcea kann mehr.
Dana Grigorcea, „Die nicht sterben“, Roman. München 2021, 264 S. geb. 22,00 Euro