„Im Zwischenland. Rhapsodien.“ Der Titel erinnert – absichtlich oder unwillkürlich? - an das Zwischenreich im Alten Ägypten. In dieses Zwischenreich gelangt die Seele, bevor sie in die Ewigkeit eingeht oder dem Großen Verschlinger zur endgültigen Vernichtung vorgeworfen wird. Im Zwischenreich wartet Göttin Maat mit der Waage, die das Gewicht der weißen Seelenfeder misst. An diesem Punkt endet alle Hoffnung und die Zahnräder des Schicksals rasten ein...
Das Zwischenreich des Alten Ägypten ersetzt heute unser Gewissen: „Das Mittelmeer, mare nostrum, das in uns hi-neinstirbt, Schlauchboot für Schlauchboot. Die Fernsehbilder lassen sich wegschalten. Noch.“ Ein solcher Satz sinkt ein, ist nicht mehr ungelesen zu machen. Hinterlässt Eindruck. Beschwert – und wirkt nach. Im „Zwischenland“ von Matthias Buth gibt es, im Gegensatz zum antiken Zwischenreich, stets Hoffnung. Die Hoffnung, uns durch Bewusstwerdung und Transformation von der Last unseres Zeitgeists zu befreien...
„Das Mittelmeer, mare nostrum...“ Die Zeilen, gelesen zu Beginn des Ukraine-Kriegs, ließen mich spontan an den Seitenrand kritzeln: Und was würdest du zu Mariupol schreiben? Oder zu Kiew? Noch ist mein Kopf zu voll von diesen Schreckensbildern, um in dem federweißen Gewissensbuch weiterzublättern. Geduldig harrt es am Tischrand aus. Doch die neuen Geschehnisse überschreiben das alte (Ge)Wissen nicht… Immer wieder blubbern Gedankenblasen aus der Tiefe des Davor empor. Und vielleicht wird er ja auch bald über die Ukraine schreiben...
Wovon spricht es zu mir aus dem federweißen Buch? Stimmen aus der Vergangenheit singen sich ein. Rhapsodien, die zwischen den Atomen meines damals noch ungeborenen Ichs nachvibrieren: Aus dem „verlorenen Osten“, von den „Leiterwagen der Trecks“: In den Vitrinen der Heimatmuseen weinen sich die Schlüssel der aufgegebenen Häuser wie „metallene Tränen“ aus, „solange das Licht brennt“. Oder die Stimme von Hannah Arendt: „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, sagt Hannah Arendt. Doch wer unterwirft sich nicht doch gern diesem Recht und siegelt es mit Begriffen wie „Freiheit und Verantwortung, Geschichte und Religion?“ Dem Recht nicht gehorchen ist Anarchie, doch was ist Recht, schwingt es als Frage in mir weiter. Ich blättere ohne zu suchen und finde: „Macht schafft Recht. Zwischen Staaten. Im Staat. Zwischen uns.“ Rhapsodien... Was will der Lyrikerjurist uns damit sagen? Dass man in seinem Zwischenland die Frage aufwerfen darf, kann, soll, muss, ob Recht tatsächlich auch gerecht ist? Oder hat nur der Stärkere recht?
Die Rhapsodien aus dem Zwischenland sind Zeitgeist. Politik, poetisch verdrahtet. Der Sirenengesang des Gewissens, der das metallische Kreischen aus den Röhren des Weltempfängers untermalt. Unvergänglich versus brandaktuell verankert.
Der Dichter: Wo ist sein Geist verortet? Oftmals im deutschen „Vaterland“, das Wort bewusst aus dem Tabu gehaucht und zaghaft neu besungen, von alter Last entsungen (rumänisch: „a descânta“, einen bösen Zauber lösen), schmerzlich-liebevoll. Oder auch bitter-ironisch: „Vaterland soll vergendert werden in Heimatland, ins Ausland des blauen Himmels, die Sprache bittet um Vergebung. Auf den Feldern Flanderns wehen vaterlandslos Kreuze zum Meer hinaus.“
Wo ist er noch? In Europa, an den Küsten gestrandeter Boote. Auf dem Balkan, wo er liebevoll über „România, ein Ovid-Land“ innehält und sich weiter ergießt bis nach Transnistrien, wo 1941 und 1942 „der Tod auch ein rumänischer Meister“ war: „400.000 Gräber in den Lüften, sie atmen immer noch, auch an den Ufern des Dnjestr“. Manchmal auch in der Bibel, immer wieder in der Kunst, in der Musik oder der Natur, wo Bienen „fliegende Liebesgedichte“ verkörpern, um endlich zu ankern im „Vaterland Mensch“ – jenem Zwischenland, wo auch „das letzte Schlauchboot“ auf „Ufer und Rettung“ hoffen darf...
Buths Rhapsodien sind ekstatische Gedichte, Leserseelen eindringlich eingehaucht, das Spiel mit Worten – ist es wirklich nur Spiel? „Wort ist Tat“ enttarnt sich der Autor in Rhapsodie 319, „der Anfang, der immer in uns wohnt“, denn „am Anfang war das Wort“. Worte aber fordern Verantwortung: Der Satz von Hannah Arendt stehe auf einem Schrank im Zimmer seiner Enkelin Luise. „Die Flucht ins Gehorchen, in den Befehlsnotstand – der Umstände, der Sachzwänge oder der Maßgaben anderer in Staat und Recht – ist somit versperrt. Wir sind verantwortlich – uns, den anderen und somit auch Gott.“
Zwischen hochpolitischen Zeilen bleibt trotzdem noch genügend Raum für Träume: „Träume liegen im Nebel des Unbewussten“, heißt es in der biblisch inspirierten Rhapsodie „Josephs Insel“. Und weiter: „Träumer sind aber gütige Menschen, solche, die im Verzeihen einen neuen Anfang wagen und aufbrechen zu neuen Ufern.“
Björn Hayer schreibt in der Berliner Zeitung über Matthias Buth: „Man trifft immer wieder auf poetische Leuchttürme, die mithin ein neues, bisweilen fast blendendes Licht auf unsere Gegenwart werfen.“
Wen wundert es, denn im „Zwischenland“ erleuchtet, anders als im antiken Zwischenreich, die Hoffnung den Weg.