Am 19. Januar hatte der mit 152 Minuten Spieldauer überlange Film „Pororoca“ von Constantin Popescu seine Premiere in den rumänischen Kinos, nachdem er am 26. September vergangenen Jahres beim 65. Internationalen Filmfestival in San Sebastián uraufgeführt worden war. Der Hauptdarsteller des unmittelbar darauf von der spanischen Presse enthusiastisch gefeierten Filmes, der Rumäne Bogdan Dumitrache, erhielt bei diesem renommierten Filmfestival im Baskenland die Silberne Muschel als Auszeichnung für den besten männlichen Schauspieler, während Constantin Popescus Film beim Ringen um den Gewinn der Goldenen Muschel für den besten Film gegenüber James Francos „The Disaster Artist“ das Nachsehen hatte, der nun in Los Angeles um den Oscar für das beste Drehbuch ins Rennen geht.
Constantin Popescus Film „Pororoca“ lässt sich wie ein klassisches Drama in fünf Akte einteilen, das mit langem Atem und heftigem Sog auf die unaufhaltsame Katastrophe zusteuert. Das macht bereits der Titel des Spielfilms von Anbeginn an deutlich. Als „Pororoca“ bezeichnen die Ureinwohner des Amazonas-Deltas eine Gezeitenwelle, die im Februar/März bei Springflut riesige Wassermassen mit unvorstellbarer Wucht aus dem Atlantik den Amazonas hinauf strömen lässt und dabei alles mitreißt, was ihr im Wege steht. Die Welle, die ihren Namen von dem lauten Grollen erhalten hat, das die Ankunft des Flusstsunamis bereits von weither ankündigt, wälzt sich vom Amazonasdelta flussaufwärts 800 km ins Landesinnere und hinterlässt eine Schneise der Verheerung und Zerstörung. Der Ton (Mihai Bogoş) des Films von Constantin Popescu nimmt diesen „Wasserdonnerlärm“, wie der Filmtitel korrekt übersetzt lautet, gleichsam als Leitmotiv in seinen Soundtrack auf, wobei äußere und innere Klangwelt wie im Horrorgenre ineinander übergehen und bereits zu Beginn des Films für akustische Irritationen sorgen, die dann am Schluss ins Getöse der Katastrophe einmünden.
Doch im ersten Akt dominiert noch das Glück der hier in den Blickpunkt genommenen wohlhabenden Bukarester Kleinfamilie, bestehend aus dem Vater Tudor (Bogdan Dumitrache), der Mutter Cristina (Iulia Lumânare) sowie zwei Kindern: der Tochter Maria im Alter von sieben und dem Sohn Ilie im Alter von fünf Jahren. Mitten im Leben stehend, mit zahlreichen Freunden gesegnet, in einer großen Wohnung mit atemberaubender Aussicht über die rumänische Hauptstadt lebend, genießen Eltern und Kinder das Paradies eines Familienidylls, das vom Pater familias zur Not auch mit Brutalität geschützt und verteidigt wird. So beschimpft Tudor beispielsweise einen Arbeitskollegen seiner Frau, der dieser mehrfach mit Anrufen nachstellt, am Telefon mit unflätigsten Ausdrücken und unter Androhung von körperlicher Gewalt.
Das reale und zugleich fragil scheinende Familienglück erleidet dann plötzlich einen furchtbaren Schicksalsschlag in der Peripetie des zweiten Aktes, der in einem Bukarester Stadtpark spielt und in dem die Handkamera (Bild: Liviu Marghidan) ausgiebig zum Einsatz kommt. In der unerbittlich und atemlos gefilmten Sequenz kommt es zum unbemerkten Verschwinden der Tochter Maria, nachdem sich der Vater bis dahin wachsam und rührend um seine beiden Kinder gekümmert hat. Nach diesem einen Moment kurzer (und den Kindern vorher angekündigter) Abwesenheit des Vaters ist und bleibt die Tochter spurlos verschwunden und taucht bis zum Ende des Films nicht mehr auf.
Der dritte Akt, den man, nach dem Glück (1. Akt) und nach dem Verschwinden (2. Akt), als „Die Suche“ betiteln könnte, erschöpft sich dann in einer Vielzahl von Gesprächen der Eltern: miteinander, mit den zahlreichen Freunden, mit den Großvätern und Großmüttern der vermissten Tochter, und vor allem mit dem ermittelnden Polizisten (exzellent Constantin Dogioiu). Doch die Gespräche führen nicht nur zu keinem Ergebnis, sondern stiften vor allem keine Gemeinsamkeit, münden außerdem in keinerlei solidarisches Handeln, zumal die Schuldfrage, die wie ein Damoklesschwert über dem Haupt des Vaters Tudor schwebt, mit aller Gewalt tabuisiert wird, vor allem von der Mutter Cristina, die an dieser Tabuisierung gleichwohl psychisch zu zerbrechen droht.
Der kurze vierte Akt, dem man die Überschrift „Die Flucht“ verleihen könnte, bietet in der Gesamtdynamik des Films nur ein kurzes retardierendes Moment: Cristina und Ilie flüchten aus der gemeinsamen Wohnung in Bukarest zu Tudors Schwiegereltern in Konstanza, von wo sie im Verlaufe des Films nicht mehr zurückkehren. Auch der kleine schwarze Hund, den der Vater gekauft hat, um den Sohn über den immer deutlicher erkennbar werdenden endgültigen Verlust seiner Schwester hinwegzutrösten, reist mit ans Schwarze Meer. Am Ende bricht sogar der Telefonkontakt des Vaters zu seiner Restfamilie ab, nachdem ihm die Ehefrau erbarmungslos die gesamte Schuld für das Verschwinden der Tochter zugeschoben hat.
Im fünften und letzten Akt bricht dann die Katastrophe über Tudor herein, der mit seiner realen oder ihm auch nur zugerechneten Alleinschuld nicht mehr zurande kommt. Bei der Auswertung der zum Verschwindenszeitpunkt gemachten Fotos im Park – eine feine Reminiszenz an Michelangelo Antonionis Filmklassiker „Blow Up“! – stößt Tudor auf einen männlichen Besucher, den er fortan verdächtigt, verfolgt, belästigt und bedroht. Obwohl die Polizei Tudor auffordert, von seinem Stalking-Verhalten Abstand zu nehmen, sieht er keinen anderen Ausweg, als die gesamte Schuld auf den für die Polizei harmlosen, für ihn selbst aber höchst gefährlichen und der Pädophilie verdächtigen Frührentner zu werfen. Der Film endet dann mit einem Amoklauf Tudors in der Wohnung des Gestalkten, bei dem ein Vorschlaghammer für großen Lärm und unappetitliche Szenen sorgt.
Auch wenn die Schlusssequenzen des Films durch ihre Brutalität das sorgfältig austarierte Miteinander verschiedener Genres – Horrorfilm, Thriller, Detektivstory, Familiendrama, psychologische Studie – aus dem Gleichgewicht bringen, so entsteht doch in Constantin Popescus „Pororoca“ das Bild einer Gesellschaft, der Werte wie Gemeinsamkeit und Solidarität verloren gegangen sind. Statt sich dem Schicksalsschlag vereint zu stellen, gehen alle scheinbar tragenden Beziehungen in die Brüche: die Ehe – Tudor und Cristina sprechen nicht miteinander, können einander nicht einmal mehr berühren; die Freunde – nach anfänglicher Sorge verflüchtigen sie sich vollständig; die Familie – statt sie zu vereinen, spaltet und vereinzelt sie die Leidenden; der Beruf – nach anfänglichen Kontakten gerät die Welt der Kollegen völlig aus dem Blickfeld.
Neben dem hervorragenden Ton (englische Untertitel helfen, vor allem in der Park-Szene, bei der Rekonstruktion der nur schwach und undeutlich hörbaren rumänischen Gesprächspassagen) und der exquisiten Kamera ist vor allem die schauspielerische Leistung der beiden Hauptakteure Iulia Lumânare und Bogdan Dumitrache zu würdigen. Begeisternd die schauspielerische Darstellung von Cristinas seelischem Zusammenbruch, der zur Flucht nach Konstanza führt! Und grandios die Wandlungen von Bogdan Dumitrache, der vom liebenden Ehemann und schützenden Familienvater über den hartnäckigen Ermittler und verbohrten Stalker bis zum kahl geschorenen Krieger und Rächer sämtliche Metamorphosen eines Mannes durchlebt, der an seiner eigenen Schuld zerbricht und andere dabei mit ins Verderben reißt! Und als beständige Begleitmusik das weither hallende Grollen der immer näher kommenden Katastrophe!