Die Münchner Professorin analysiert die politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Südosteuropa in umfassender Weise. Die Auswirkungen der transkulturellen Beziehungen werden auf der lokalen, regionalen, nationalen und globalen Ebene untersucht. Ziel dieser vielschichtigen Herangehensweise ist es, den Rahmen der Geschichten von Nationalstaaten zu sprengen und Mythen transparent zu machen. Im kurzen Einstieg über die Zeit bis 1500 wird die Herkunft der Zivilisationen und Religionen in Südosteuropa skizziert. Im zweiten Teil über die weltwirtschaftlichen Strukturen von 1450 bis 1800 analysiert Calic die Wesenszüge der osmanischen Herrschaft. Sie geht vor allem der Frage nach, wie die Sultane so lange einen Interessenausgleich mit den lokalen Eliten in dem multikulturellen Riesenreich schafften. Am Beispiel von Istanbul 1683 wird die Arbeitsteilung genauer dargestellt. Der Handel lag überwiegend in den Händen von Griechen, Juden und Armeniern. Sie organisierten den Transfer von Lebensmitteln aus dem Schwarzmeergebiet und auch von Luxuswaren aus anderen Weltregionen. Einige Nachkommen byzantinischer Adelsfamilien, die durch den Handel reich geworden waren, erhielten auch Positionen am Hof. Sie wurden als Fürsten in den Donaufürstentümern eingesetzt, wo sie sich mit rumänischen Adligen verbanden. Diese Form der Herrschaftssicherung gelang nicht mehr, als Russland und das Habsburger Reich immer stärkeren Einfluss auf diese Gebiete nahmen. Calic zeigt am Beispiel des moldauischen Fürsten Dimitrie Cantemir, warum dieser sich 1710 der russischen Oberhoheit unterstellte. Geprägt von den Ideen der Aufklärung sah er in Russland von Peter dem Großen einen Staat im rasanten Aufschwung.
Der dritte Teil ist den Folgen der globalen Revolutionen von 1776 bis 1878 gewidmet. Angestoßen durch die Ideen der französischen Revolution organisierten einige Südosteuropäer Aufstände gegen die osmanische Herrschaft, die zumeist scheiterten. Viel nachhaltiger wirkte die kurze Herrschaftszeit Napoleons in Istrien und Dalmatien: Er legte zwischen 1805 und 1813 die Basis für eine funktionierende Verwaltung und ein modernes Bildungssystem. Diese Errungenschaften wie auch der Code Napoleon blieben nach der Rückkehr der Österreicher erhalten. Beim Wiener Kongress von 1815 wurde ein neues Gleichgewicht zwischen den Interessen der Großmächte hergestellt. Doch die einheimischen Eliten in Südosteuropa erstrebten mehr Bewegungsfreiheit, wie Calic am Beispiel der Händlerschicht in Thessaloniki 1821 verdeutlicht. Der Frieden von Adrianopel 1829 sicherte die freie Schifffahrt auf dem Schwarzen Meer und durch die Dardanellen. Die war besonders wichtig für die Getreideexporte aus Russland. Die Großmächte akzeptierten 1830 die Gründung unabhängiger Staaten in Serbien und in Griechenland. Die Habsburger und der Zar gaben sich als Beschützer der Christen in Südosteuropa aus und begannen mit der Aufteilung des Osmanischen Reiches. Der ökonomische Aufschwung in Südosteuropa führte zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen: Das protoindustrielle Gewerbe expandierte und die Städte wuchsen.
Doch die bürgerliche Schicht vergrößerte sich nur langsam, weil parallel dazu keine Agrarrevolution stattfand. Trotz der unrentablen Produktionsformen verdoppelte sich der Getreideexport aus den Donaufürstentümern zwischen 1830 und 1877. Getragen von einer neuen Elite, die von den Ideen der 1848-Revolution geprägt war, entstand 1859 der vereinigte rumänische Staat. Im vierten Teil wird die Entwicklung Südosteuropas ins Zeitalter der Weltkrisen und Weltkriege zwischen 1870 und 1945 eingeordnet. Beim Berliner Kongress 1878 einigten sich die Großmächte darauf, Serbien, Montenegro und Rumänien als unabhängige Staaten anzuerkennen. Deren Minister unterzeichneten nachteilige Handelsverträge mit Österreich: Sie mussten eine Eisenbahnverbindung nach Ungarn finanzieren, wofür sie Kredite aufnahmen. Der Ausbau der Bahnlinien und die Regelung der Donauschifffahrt nutzte vor allem den entwickelten Industrieländern, die sich die Märkte in Südosteuropa erschlossen. Die ausländischen Kredite verursachten eine große Schuldenlast: Serbien, Bulgarien und Griechenland landeten in den 1890er Jahren im Staatsbankrott. Rumäniens Lage war durch die Erdölquellen günstiger, aber die Aktien der Fördergesellschaften kauften größtenteils Ausländer auf. Rumänien stieg auch zum viertgrößten Getreideexporteur der Welt auf.
Mit den Migranten gelangten nach 1900 auch viele Albaner in die USA. Mit der dortigen Diaspora setzte sich der orthodoxe Theologe Fan Noli für die Entstehung des albanischen Nationalstaates 1913 ein. Der Erste Weltkrieg forderte besonders viele Todesopfer in Serbien. Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches folgte ein umfangreicher Bevölkerungsaustausch: Aufgrund des Vertrags von Lausanne 1923 mussten mindestens 2,8 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Das große Wohlstandsgefälle Südosteuropas gegenüber Westeuropa blieb auch in der Zwischenkriegszeit bestehen. Die Weltwirtschaftskrise traf die Agrarstaaten hart durch die halbierten Getreidepreise. Die wachsenden sozialen Probleme untergruben die Stabilität des Parlamentarismus und ermöglichten die Durchsetzung autoritärer Systeme. Die Hauptstädte waren moderne Inseln in einem rückständigen Umfeld, wie Calic am Beispiel von Bukarest anschaulich schildert. Viele junge Rumänen lasteten die Disparitäten den Juden an, wodurch sie geistig die Massenmorde von 1941 vorbereiteten.
Im fünften Teil wird die „Globalisierung und Fragmentierung von 1945 bis heute“ behandelt. In der kommunistischen Ära schafften Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und Albanien durch die forcierte Industrialisierung einen Anstieg des Bruttosozialproduktes. Der Analphabetismus wurde beseitigt und Frauen rechtlich gleichgestellt. Jugoslawien schloss sich der Blockfreien-Bewegung an. Die Gastarbeiter aus Jugoslawien und Griechenland schufen seit den 1960er Jahren ein neues Netz von Außenkontakten. Über moderne Kommunikationsmittel waren die Südosteuropäer nun mit der Welt verbunden. Trotz der geringen Anzahl von Dissidenten wurden die Impulse zur Transformation aus Polen aufgenommen und ermöglichten den Umbruch nach 1989. Als Fazit unterstreicht Calic, dass die Staaten Südosteuropas durch den verspäteten Start der Industrialisierung lange die unterentwickelte Peripherie Europas blieben. Innerhalb der Weltwirtschaftsordnung waren sie in der Rolle von Rohstoffproduzenten für die Industrienationen. Aufgrund umfangreicher Sonderförderungen schafften nach 1990 Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien den Anschluss an die Europäische Union. Ein umfangreicher Apparat von Fußnoten ermöglicht dem Leser eine Vertiefung, die 7 Karten erleichtern die Orientierung. Der Entwicklungsstand in jeder Epoche wird durch Fotos verdeutlicht. Das Buch ist trotz des umfassenden Inhalts sehr gut lesbar und wird sicher ein Standardwerk.
Marie-Janine Calic: „Südost-europa. Weltgeschichte einer Region“, München: Beck Verlag 2016, 704 S.