Erinnern wir uns mal an unsere Lebenspläne in der Grundschulzeit. Die einen wollten den Beruf der Mutter oder des Vaters erlernen, die anderen tendierten zu Abenteuer versprechenden Berufszweigen wie Feuerwehrmann und Polizist oder strebten fürsorglich orientiert eine Arbeit als Tierärztin und Lehrerin an. Brückenbauer allerdings, das wollte niemand werden, und dennoch sehen sich viele heutzutage gerne als solche – zumindest im übertragenen Sinne. Doch ist das für Rumäniendeutsche noch zeitgemäß?
Am Anfang war der Fluss. Dann kam der Fährmann – nicht jener am Styx – und später bauten die Menschen einen Steg, eine Brücke und verbanden die beiden Ufer miteinander. Sie mussten sich nicht mehr entscheiden, auf welcher Seite des Flusses sie ihr Leben gestalten wollten – sie konnten jederzeit hinüber. Beim Queren der Brücke nahmen sie Waren und Gedankengut mit, es kam weit über den Uferstreifen hinaus zum Warenverkehr und Kulturaustausch. Dieser Kulturtransfer ist fruchtbar, wenn beide Seiten adäquat berücksichtigt werden können: man kennt sich, die jeweilige Kultur, die Sprachen. Das trifft bei den ausgesiedelten Rumäniendeutschen auf die Erlebnisgeneration zu und passt zu einer Nachwendezeit, in der es in Europa einen Osten und einen ignorierenden Westen gab, wo man sich „eher einen nicaraguanischen Solidaritätskaffee (kauft), als dass er die nostalgischen Aufsätze der osteuropäischen Intellektuellen über die Kaffeehäuser des alten Mitteleuropa lesen würde.“ (Richard Wagner, 1993)
Dreißig Jahre später liest man nirgends mehr Kaffeehausgeschichten – ob aus Paris, Florenz, Budapest, dem Temeswarer Lloyd, dem Hermannstädter Römischen oder dem Bukarester Capșa – oder etwa doch? Vielleicht entstehen sie bei einem Espresso auf einem iPad, online in einem Blog – verfasst von einem Stadtschreiber. Einer residiert vorübergehend in Temeswar und hat ein Faible für szenische Texte:
„zipser / sagen sie / sei ich / weil meine muttersprache diese / färbung / dieser dialekt, oder sprache sich in mein hirn und von dort sich mir auf die zunge gelegt. darf nur eins sein. bestehe doch aus den anderen sprachen auch.“ (Thomas Perle, 5.7.2023)
Der Stadtschreiber, ausgewählt von einer Fachjury der beteiligten Fördereinrichtungen, schreibt über Aktuelles in Stadt und Region, spürt Vergangenem nach und lotet zukünftige Möglichkeiten aus, nah am Geschehen mit der Distanz von auswärts. Er baut keine Brücken, er findet Schnittmengen und macht sie öffentlich, auf dass andere sich angesprochen fühlen und ihnen nachgehen. Vielleicht finden sie ja weitere Gemeinsamkeiten wie auch Anregungen – für sich und mit anderen.
Eine Schnittmenge entsteht bekanntlich durch die Teilüberlappung zweier Mengen. Ob das jährlich wandernde Stadtschreiberstipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa oder die fest in Katzendorf/Cața verortete Position des Dorfschreibers mit Unterstützung des Schriftstellers Frieder Schuller – ihnen gemein ist eine Per-spektive von einem möglichst zweisprachigen Stipendiaten. Doch die Erlebnisgeneration ist abnehmend aktiv und jene Zweisprachigkeit bald keine Normalität mehr. Schnittmengen lassen sich zu zweit leichter entdecken. Gefragt ist der doppelte Stadtschreiber: Eine literarisch begabte Person aus dem deutschsprachigen Ausland und ein ebenso ortsfremder Stipendiat aus Rumänien, die neben eigenen Initiativen auch gemeinsam unterwegs sind, verarbeiten literarisch ganz persönliche, wie auch gemeinsame Perspektiven. Unterschiede und Schnittmengen werden lesbar und sichtbar, was insgesamt bei der Leserschaft zu neuen Perspektiven führen kann.
Zu hoffen bleibt, dass sich rumäniendeutsche Kulturverbände im Ausland mit jenen im Inland sowie mit lokalen Kultureinrichtungen, aber auch rumänischen und deutschen Kulturinstituten auf langfristige Fördermöglichkeiten für mehrere Städte verständigen. Für fachliche Unterstützung prädestiniert wäre zudem das Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropa, das Deutsche Kulturforum östliches Europa mit bereits bestehender praktischer Langzeiterfahrung, Partnerstädte, regionale Feuilletonredakionen.
Aller Anfang ist schwer. Einen guter Anlass bietet das Sachsentreffen in Hermannstadt/Sibiu 2024. Eine Starthilfe der Partnerstadt Klagenfurt wäre dafür prädestiniert, vergibt sie doch bereits seit Jahren an inzwischen namhafte Autoren Stipendien vor Ort. Die Region Hermannstadt verfügt auf beispielhafte Weise über ein berichtenswertes Kulturleben für einen sog. doppelten Stadtschreiber und über unterstützende institutionelle Einrichtungen: bei der deutschen Minderheit, dem deutschen Kulturzentrum in Partnerschaft mit dem Goethe-Institut, im städtischen Kulturreferat, in der lokalen Literaturszene mit landesweit etablierten Akteuren in beiden Sprachen, dem Beirat des Kulturmagazins Revista Transilvania, der Redaktion der Hermannstädter Zeitung und der ADZ. Bloß: Wer macht den Anfang?