Der im Jahre 1903 in Vlădeni unweit von Kronstadt/Braşov geborene und 1993 in Bukarest verstorbene rumänische Theologe Dumitru Stăniloae zählt zu den bedeutendsten orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts und aus ökumenischer Sicht auch zu den wichtigsten Gestalten der modernen Theologiegeschichte. Teoctist, der vormalige Patriarch der Rumänischen Orthodoxen Kirche, würdigte ihn als einflussreichen und prägenden Trinitätstheologen; Daniel, der gegenwärtige Patriarch, promovierte bei Stăniloae als seinem Doktorvater über „Theologie und christliche Spiritualität“; und Arsenie Boca, der für die rumänische orthodoxe Frömmigkeit höchst bedeutende Seelsorger und Priestermönch, war Stăniloaes ehemaliger Student und späterer Mitstreiter.
Jürgen Henkel, den der Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa im Geleitwort zu dessen Studie über Stăniloae zu den besten Kennern und den verständnisvollsten westlichen Interpreten der orthodoxen Theologie rechnet, gibt in diesem voluminösen Buch einen mustergültigen Überblick zunächst über das Leben Dumitru Stăniloaes, sodann über dessen wissenschaftliches, publizistisches und übersetzerisches Gesamtwerk wie auch über die Grundgedanken von Stăniloaes Theologie. Henkels Studie wendet sich nicht an ein spezialisiertes Fachpublikum, sondern generell an Leserinnen und Leser mit Interesse an theologischen und kirchlichen, aber auch an politischen und historischen Fragestellungen. Dank ihrer übersichtlichen Gliederung, ihrer klaren und verständlichen Sprache sowie dank der zahlreichen Zusammenfassungen und Fazite im Text bietet Henkels Studie zugleich eine gute Einführung nicht nur in die orthodoxe Theologie Stăniloaes, sondern in theologisches Denken überhaupt.
Der erste Teil des 560 Seiten starken Buches ist der Biographie von Dumitru Stăniloae gewidmet. Die Schulzeit in Kronstadt, das Studium in Bukarest und Czernowitz/Cernăuţi, wo er auch seine Promotion über den Patriarchen Dositheos von Jerusalem vollendete, sowie seine postdoktoralen Studien in München und Berlin (Stăniloae verfügte über sehr gute deutsche Sprachkenntnisse!), wo er sich vor allem mit der protestantischen Dialektischen Theologie auseinandersetzte, bildeten die Grundlage für seine spätere akademische Laufbahn, die Stăniloae 1929 an der Theologischen Akademie „Andreiana“ in Hermannstadt/Sibiu begann. 1935 folgt die Berufung zum ordentlichen Professor und ein Jahr später wird er Rektor der „Andreiana“. Auch kirchlich werden ihm Würden verliehen, so 1940 die Würde eines kreuztragenden Erzpriesters (rum. protopop stavrofor).
Die kommunistische Machtergreifung in Rumänien bedeutete einen tiefen Einschnitt in Stăniloaes Laufbahn. Er musste 1946 vom Amt des Rektors zurücktreten und wurde im Jahr da-rauf nach Bukarest versetzt, wo er immer mehr ins Visier des kommunistischen Regimes und des 1948 gegründeten Geheimdienstes Securitate geriet. 1958 wurde er wegen „Verschwörung gegen den Arbeiterstaat und die Arbeiter Rumäniens“ zu fünf Jahren Haft verurteilt, die er in den Gefängnissen Jilava und Aiud durchlitt. In den Jahren der politischen Entspannung nach 1968 konnte er auf seinen Reisen durch Europa zahlreiche internationale Kontakte zu christlichen Theologen unterschiedlicher Konfessionen knüpfen und so die Voraussetzung für bedeutende wissenschaftliche Werke schaffen, die erst nach seiner Emeritierung 1973 in der langen Spätphase seines Schaffens bis 1993 entstanden. Die bloße Auflistung der Titel seiner wissenschaftlichen, übersetzerischen und publizistischen Werke nimmt selbst das Ausmaß eines Buches an.
Der zweite Teil der Studie widmet sich den theologischen Grundgedanken Dumitru Stăniloaes, wobei das Augenmerk Jürgen Henkels weniger auf deren historischer Genese als auf deren systematischer Geltung liegt. Auf eine allgemeine Einführung in die theologische Methode Stăniloaes folgt in Henkels Buch die Auseinandersetzung mit jenem theologischen Konzept, das bei Stăniloae die Grundlage für alle anderen christlichen Dogmen bildet: die theologische Lehre von der Trinität, die allerdings nicht als abstraktes Dogma zu betrachten ist, sondern als konkrete Konsequenz aus dem Wesen Gottes, das nach 1 Joh 4,16 die Liebe ist. „Die Liebe kann nicht in einer monopersonalen Existenz sein. Liebe impliziert eine interpersonale Gemeinschaft.“ Diese Sätze, die in Stăniloaes Werk „Die Heilige Trinität oder Am Anfang war die Liebe“ (1993) stehen, machen deutlich, dass die Hinwendung zum Anderen bereits in Gott selbst angelegt ist, der in seinem Sohn aus sich heraus und auf seine Schöpfung wie auf die Menschen zu geht und diese im Heiligen Geist wieder mit sich vereint.
Aus dieser Liebesmystik heraus ergeben sich die übrigen theologischen Überzeugungen St²niloaes gleichsam von selbst. Bereits die Schöpfung Gottes vollzieht sich aus Liebe, weil Gott der Ursprung der absoluten Liebe ist, und diese Liebe geht dann von Gott auf die Menschen über und „zieht die Menschen, die sich lieben, zu ihm hin“, wie es in Stăniloaes Schrift „Der Mensch und Gott“ (1990) heißt. Das Prinzip der Liebe zeigt sich außer in der Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) vor allem auch in der Christologie (Lehre von Christus) Stăniloaes und in seiner Soteriologie (Lehre von der Erlösung). Beim Tod Christi am Kreuz steht nicht der Gedanke der Sühne im Vordergrund, sondern der Gedanke der Verwandlung, Erneuerung, Wiederherstellung, Heiligung des Menschen, der in der orthodoxen Theologie „Theosis“ (Gottwerdung, Vergöttlichung) genannt wird.
Neben diesen systematisch-theologischen Reflexionen St²niloaes kommen in Jürgen Henkels Buch aber auch andere Leistungen des bedeutenden rumänischen Gelehrten zur Sprache. Dazu zählen seine bahnbrechenden Übersetzungen in der „Rumänischen Philokalie“ (12 Bände mit insgesamt 6000 Seiten aus den Jahren 1946 bis 1991), der umfangreichsten Philokalie-Ausgabe überhaupt, in welcher Texte von asketischen christlichen Schriftstellern, den sog. Wüstenvätern, vom 4. bis zum 15. Jahrhundert versammelt sind, angefangen mit Antonios dem Großen (Band 1) bis hin zu Isaias von Sketis (Band 12).
Weitere Themen, die Jürgen Henkel in seinem Buch über Dumitru Stăniloae behandelt, sind: orthodoxe Spiritualität; Askese und Mystik; Läuterung (rum. purificare), Erleuchtung (rum. iluminare) und Vergöttlichung (rum. îndumnezeire); ferner die Liturgie, die Gesamtheit der religiösen Zeremonien und Riten des christlichen Gottesdienstes, als Mittel zur Heiligung der liturgischen Gemeinde wie auch zum geistlichen Aufstieg hin zum trinitarischen Gott.
Besonders aufschlussreich und interessant ist das Kapitel „Orthodoxie, Volk, Nation und Reich Gottes“. Darin werden zunächst unterschiedliche orthodoxe Positionen zu Begriffen wie Nation, Volk oder Ethnos dargestellt, sodann wird ausführlich über die rumänische Geschichte und Kirchengeschichte informiert. Im Anschluss daran werden drei Werke Stăniloaes präsentiert, die sich mit den genannten Konzepten und Begriffen eingehend auseinandersetzen: „Orthodoxie und Rumänismus“ (1939/1998); „Der Uniatismus in Siebenbürgen. Der Versuch der Spaltung des rumänischen Volkes“ (1973); „Reflexionen über die Spiritualität des rumänischen Volkes“ (1992). Insbesondere das letztgenannte Werk ist von besonderem Interesse, weil Stăniloae hier im Rahmen einer „Ontologie der rumänischen Spiritualität“ zugleich eine Imagologie des rumänischen Volkes entfaltet. Rumänentum zeigt sich nach Stăniloae in der Synthese bzw. im Ausgleich zwischen scheinbar unversöhnlichen Gegensätzen (etwa zwischen Ost und West, Mystik und Rationalität, Gemeinschaftsorientierung und Individualismus), ferner in der Verwurzelung in der Dorfkultur wie auch in der Hochschätzung der Volkskunst, in der Luzidität, Zartheit und Feinfühligkeit, in der (Selbst-)Ironie und im Humor, in der Sehnsucht (rum. dor), in der Menschenfreundlichkeit, in der Gastfreundschaft und schließlich in der tiefen Religiosität, wovon der rumänische Alltagsgruß „Doamne ajută“ (Herr hilf) beredtes Zeugnis ablegt.