Vor Kurzem erschien im Temeswarer Mirton Verlag, gedruckt mit der Unterstützung des Departements für Interethnische Beziehungen im Generalsekretariat der Regierung Rumäniens, der von der Temeswarer Germanistin Roxana Nubert in Verbindung mit Ana-Maria Dascălu-Romiţan und Grazziella Predoiu herausgegebene Tagungsband mit dem Titel „Deutschsprachige Literatur im rumänischen Kulturraum (19.-21. Jahrhundert) / Interkulturelle Begegnungen“. Der 222 Seiten starke Band versammelt Tagungsarbeiten einer Sektion des internationalen Germanistikkongresses im Oktober 2016, mit dem die Temeswarer Germanistik ihr sechzigjähriges Bestehen feierte.
Insgesamt zwölf wissenschaftliche Beiträge von Germanistinnen und Germanisten aus Norwegen, Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien sowie Bosnien und Herzegowina widmen sich in dem kostenlos vertriebenen Tagungsband der Erforschung der deutschsprachigen Literatur im rumänischen Kulturraum vom 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Gegenwart.
Eröffnet wird der Temeswarer Sektionsband mit einem Aufsatz des Budapester Komparatisten Ferenc Vincze, der sich mit dem Thema der Regionalliteraturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im rumänischen Kulturraum auseinandersetzt. Die geläufigen und von der Literaturwissenschaft häufig verwendeten Begriffe „rumäniendeutsche“ bzw. „rumänienungarische“ Literatur seien im Grunde durch die rumänische nationalstaatliche Ideo-logie geprägt – im Falle der rumänienungarischen Literatur spricht Vincze gar von der dadurch bewirkten Deterritorialisierung und Kolonialisierung der ungarischen Literatur. Stattdessen sollten sich die Literaturwissenschaftler künftig der Region als eines grenzüberschreitenden, transnationalen Raumes annehmen, in dem jenseits eingefahrener Grenzziehungen konzeptuelle Offenheit walte. Wenn dieser methodische Ansatz ernst genommen werde, „könnten vielleicht solche regionale Literaturgeschichten entstehen, in denen die Werke von Andrzej Stasiuk, Esther Kinsky, Franz Hodjak, László Csiki, Herta Müller, Ştefan Bănulescu oder Ádám Bodor nebeneinander behandelt werden könnten und nicht aufgrund der Abstammung der Autoren, vielmehr mit Bezug auf die in den Werken hergestellten Regionskonzepte und deren Verknüpfungen.“ (S. 19)
Der Braunschweiger Rilke-Forscher Erich Unglaub, derzeit Präsident der Internationalen Rainer-Maria-Rilke-Gesellschaft, feiert in seinem umfangreichen Beitrag zum Temeswarer Sektionsband „die große Tat“ des aus Temeswar gebürtigen Franz Xaver Kappus, dem es durch die Publikation der Briefe, die der in Paris lebende Prager Dichter in den Jahren 1903 bis 1908 an ihn gerichtet hatte, gelungen war, einer ganzen Dichtergeneration Stimme und ihrem Lebens- und Werk-Konzept Ausdruck zu verleihen. Die in den „Briefen Rainer Maria Rilkes an einen jungen Dichter“ (1927) artikulierte „Forderung des ‚Schreiben-Müssens’ ist inzwischen zu einer Metapher für kreatives Kunstschaffen in allen Genres und über sie hinaus bis zum Überschreiten von traditionellen Grenzen und Normen geworden.“ (S. 44)
Die Kronstädter Germanistinnen Carmen Elisabeth Puchianu und Delia Cotârlea beschäftigen sich in ihrem gemeinschaftlich verfassten Beitrag mit Gedichten rumäniendeutscher Autorinnen, die in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Zeitschrift „Neue Literatur“ in Bukarest veröffentlicht wurden. Gefühlsintensität, symbolische Darstellung erlebter Liebe und Erotik sowie intensive Metaphorik sind Merkmale weiblichen Schreibens um 1980, die „sowohl dem Ausdruck von Opposition, als auch von weiblicher Selbstbehauptung im grauen, tristen politischen System des Kommunismus“ (S. 110) dienten.
Die Temeswarer Germanistin und Mitherausgeberin des Sektionsbandes Ana-Maria Dascălu-Romiţan befasst sich in ihrem Beitrag mit interkulturellen Aspekten und Mehrsprachigkeit in den Tagebüchern des rumänischen Schriftstellers, Literaturkritikers, Philosophen und Politikers Titu Maiorescu, wobei sie dessen Rolle als eines Trägers interkultureller Bildung und eines Brückenbauers zwischen der rumänischen und der deutschen Kultur besonders hervorhebt.
Das Werk des in der Schweiz lebenden Catalin Dorian Florescu, eines deutschsprachigen Autors mit rumänischem Migrationshintergrund, wird in dem Temeswarer Sektionsband von der an der Universität Banja Luka (Bosnien und Herzegowina) lehrenden Germanistin Lijlijana Acimovic untersucht, und zwar im Hinblick auf Frauenfiguren in dessen viertem Roman „Zaira“ (2008). Anhand der außergewöhnlichen und komplex aufgebauten Frauenfiguren entwirft Florescu in diesem umfangreichen Roman ein umfassendes gesellschaftspolitisches Bild Rumäniens im 20. Jahrhundert.
Die Hermannstädter Germanistin Maria Sass beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der literarischen Konstruktion historischer Vergangenheit in Ursula Ackrills Roman „Zeiden, im Januar“ aus dem Jahre 2015, in erster Linie mit der „Beziehung der Siebenbürger Sachsen zum Dritten Reich“ (S. 181), wobei sie dem im Mittelpunkt der romanhaften Darstellung stehenden Datum des 21. Januar 1941 besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lässt.
Die Temeswarer Germanistin Grazziella Predoiu widmet sich in ihrem Beitrag zu dem von ihr mit herausgegebenen Tagungsband dem Motiv des Koffers in der rumäniendeutschen Literatur, wobei der Koffer bei Herta Müller als Erinnerungsspeicher, als Symbol der behüteten Welt, als Begleiterscheinung der Fremde und als Requisit des Dissidententums fungiert, während Franz Hodjak in seinem Roman „Ein Koffer voll Sand“ den Koffer zum Symbol der Begriffs-, Identitäts- und Heimatlosigkeit stilisiert.
Alle übrigen Aufsätze des Sektionsbandes der Temeswarer Jubiläumstagung befassen sich gleichfalls mit Werken der rumäniendeutschen, sei es der siebenbürgisch-sächsischen, sei es der banatschwäbischen, Literatur, wobei im Folgenden nur noch die Namen der Verfasser und die Titel dieser allesamt lesenswerten Tagungsbeiträge genannt werden können. Laura Inăşel (Temeswar): Nationenbezogene und nationentypisierende Bilder im 19. Jahrhundert – Joseph Marlins Roman „Horra. Kriegs- und Friedensbilder aus dem Volksleben der Rumänen oder Walachen Siebenbürgens“; Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck): Adolf Meschendörfers „Stadt im Osten“ als ‚Raumroman’; Cosmin Dragoste (Craiova): „Genosse, was habe ich auszuführen?“ Vor- und Darstellungen der Kindheit in der rumäniendeutschen Literatur der Nachkriegszeit; Helgard Mahrdt (Oslo): „Auch um sich selbst nicht zu verlieren, braucht man Schönheit“ (Herta Müller); Lorette Brădiceanu-Persem (Temeswar): Nudelsuppe und Kartoffelschalen. Vom Essen und Hungern bei Herta Müller.
Weitere Tagungsarbeiten anderer Sektionen des eingangs genannten Temeswarer Germanistikkongresses sind in den ebenfalls jüngst erschienenen Bänden 13 und 14 der „Temeswarer Beiträge zur Germanistik“ veröffentlicht.
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Roxana Nubert, Ana-Maria Dascălu-Romi]an, Grazziella Predoiu (Hgg.): Deutschsprachige Literatur im rumänischen Kulturraum (19.-21. Jahrhundert) / Interkulturelle Begegnungen. Temeswar: Mirton 2017, 222 S., ISBN: 978-973-52-1731-0.
Roxana Nubert (Hg.): Temeswarer Beiträge zur Germanistik. Bd. 13. Temeswar: Mirton 2016, 199 S., ISSN: 1453-7621.
Roxana Nubert (Hg.): Temeswarer Beiträge zur Germanistik. Bd. 14. Temeswar: Mirton 2017, 217 S., ISSN: 1453-7621.