Die Kompositionen des großen Meisters der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Johannes Vermeer, und vor allem seine geniale Lichtführung haben ihn zu einem der heute weltweit bekanntesten Maler gemacht. Seine Bilder sind in ein mildes, aber alles offenbarendes Licht getaucht oder besser: sie werden von Licht durchflutet –, in unfehlbarer Sicherheit vermag er seine Gestalten, einen Gegenstand dem anderen, zuzuordnen. Seine Palette drückt sich in einer kühlen Farbskala, den gedämpften Gelb- und Blautönen, dem Schimmer von Gold und Grau aus, das im Schwarz verankert ist. Und die Gemälde des Delfter Meisters sind von einer unbeschreiblichen Stille, so dass selbst dem Betrachter der Atem stockt.
Vermeer soll so zwischen 45 und 50 Werke – innerhalb von 18 Jahren, von 1654 bis 1672, durchschnittlich zwei Gemälde pro Jahr - geschaffen haben. Bis heute wurden ihm 37 Werke zugeschrieben, von denen 24 signiert und 5 zusätzlich datiert sind. Von den frühen Historienbildern über kleinere Darstellungen von Alltagsszenen und experimentelle Tronien (Charakterstudien von Menschen mit auffälligen Gesichtszügen und hervorstechender Kleidung, wie sie in den Niederlanden während des „Goldenen Zeitalters“ beliebt waren) bis hin zu den späten Allegorien, die dann wieder größeres Format haben. Das Rijksmuseum in Amsterdam, das selbst vier bedeutende Werke Vermeers besitzt, zeigt jetzt dank großzügiger Leihgaben aus den großen Museen in aller Welt mit wenigstens 28 Werken die bisher größte Vermeer-Ausstellung, die jemals stattgefunden hat. Und der Ansturm ist so enorm, dass schon alle verfügbaren Karten ausverkauft sind.
Das beeindruckende Gemälde „Bei der Kupplerin“ (1656) stellt die Verbindung zwischen den frühen Historienbildern und den klassisch zurückhaltenden, lichtdurchfluteten Interieurs nach 1657 dar, für die Vermeer berühmt geworden ist. Eine Genreszene, ein „Bordellbild“ bietet sich dem Betrachter: Der Freier in roter Jacke hat seine Hand besitzergreifend auf den Busen des in Gelb gekleideten Freudenmädchens gelegt, das ein Weinglas in der Linken hält, während er mit der Rechten eine Münze in ihre geöffnete Hand drückt. Wachsam wird die Zahlung von der im Hintergrund stehenden, schwarz gekleideten Alten, der „Kupplerin“, verfolgt. Als Vermittler hat aber wohl der Musiker im historisierenden Kostüm fungiert, der sich an den linken Rand zurückgezogen hat und der nun als einziger in Blickkontakt zum Betrachter getreten ist. Mit dem Trinkgefäß in der Hand scheint er nach der erfolgreich verlaufenen Aktion die Rolle des „Erzählers“ übernommen zu haben. Ihm ist wohl mehr das Vergnügen am Reiz des Verbotenen anzusehen, als dass er vor Alkohol, Betrug und Sittenverfall warnen will.
Aus Dresden stammt Vermeers berühmtes Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657-1659), eines der rätselhaftesten Bilder des Meisters des niederländischen Barock. Es ist das erste von sechs Gemälden, in denen sich der holländische Maler mit dem Thema des Brieflesens oder Briefschreibens auseinandersetzte. Ein Vorhang auf der rechten Seite verdeckt zu einem Drittel den ebenso hohen wie tiefen Raum und scheint uns den Zugang zu dem Bild zu verwehren. Was in dem brieflesenden Mädchen im strengen Profil vorgeht, dringt nicht nach außen, vollzieht sich nur in ihrem Innern. Dagegen mag das offene Fenster - zusammen mit dem Brief – wohl den Wunsch der jungen Frau veranschaulichen, aus der häuslichen Enge auszubrechen und in Kontakt mit der Außenwelt zu treten. Röntgenaufnahmen haben an der Rückwand des Zimmers das Gemälde eines Cupido entdeckt, der auf die Masken der Verstellung und Täuschung tritt. Liebe überwindet Betrug und Lüge - hier wird also die Botschaft der Liebe verkündet.
„Häuseransicht in Delft (Die kleine Straße)“ (um 1658) stellt scheinbar nur eine Straßenszene dar: Zwei Frauen sind mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, Kinder spielen unter der Hausbank, aber welche Ruhe und wohlgefügte Form strahlen die mehrstöckige Hausfassade – wir sehen sie in einer Verkürzung, dennoch ist sie wirklich - und die angrenzenden Giebel, der bewölkte, Regen ankündigende Himmel aus. Das Dreieck des wolkigen Himmels wird zu dem umgekehrten Dreieck des Stufengiebels in Beziehung gesetzt, es ist das Paradebeispiel einer holländischen Stadtlandschaft und Alltagsszene.
„Die Dienstmagd mit Milchkrug“ (1658/59), auch als „Das Milchmädchen“ bezeichnet, zeigt eine Küchenmagd bei der Arbeit - nichts Ungewöhnliches, aber Vermeer setzt hier das Licht allumfassend als verbindendes Element in die Szene ein. Es fällt durch ein Fenster auf der linken Seite in den Raum und beleuchtet die Gestalt der Frau, die sich mit ihren weichen Hauttönen, dem Weiß der Haube und dem Gelb, Grün und Blau der Kleidung plastisch von der dunklen verschatteten Wand abhebt. Umgekehrt geschieht dies auf der rechten Seite durch die dunkle Schattenkontur vor der lichten Wand. So kommt ein faszinierendes Spiel zwischen Licht und Schatten zustande. Mit vielen kleinen – leuchtenden – Farbpunkten erweckt Vermeer zudem die Illusion von Lichtreflexen.
Sechs Jahre nach dem „Brieflesenden Mädchen“ malte Vermeer „Die Briefleserin in Blau“ (1663). Während die Lesende im Dresdner Frühwerk hinter einer zweifachen Barriere – Vorhang und Tisch – optisch abgeschirmt ist, hat man hier unmittelbar Zugang zum Privatbereich der Briefleserin. Die Farbgegensätze Blau und Gelb dominieren. Aber was dazwischen an Farbtönen eingesetzt wird – die Lichtquelle selbst ist nicht zu sehen -, verwandelt den Raum in etwas Ungewöhnliches, der sich von der Wirklichkeit abhebt. Eine neue Auffassung von Raum, Licht und Perspektive tritt uns entgegen. Vermeers Interieurszenen wandeln sich zu illusionistischen Raumeindrücken, deren Formen und Figuren in Farben, Licht und Schatten aufgelöst werden. Gläser, Teller, Fayencen, Mobiliar, Gewänder, wissenschaftliche wie Zeichen-Instrumente, Globen, Uhren sind in Vermeers Bildern als signifikante Gegenstände immer wieder zu finden. Der Meister aus Delft brillierte in der Darstellung von Stofflichkeit, Materialien und ihren Lichtreflexen.
Charakteristisch für seine Innenräume: Das Tageslicht dringt zwar durch die geöffneten Fenster in sie hinein, aber nie wird ein Blick durch diese Fenster in die Außenwelt gewährt. Vermeer präsentiert eine abgeschiedene Welt, die den Betrachter eigentlich nicht nötig hat.
Anders ist das bei dem Tronie „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ (1664-67), auch als „Mona Lisa des Nordens“ bekannt geworden; von einem geheimnisvollen Zauber umgeben, ist es eines der populärsten Werke Vermeers. Das Mädchen – wer sie ist, ist unbekannt - trägt eine ockergrüne Jacke, von der sich der weiße Kragen deutlich absetzt, und einen ultramarinblauen Turban mit gelbem herabfallendem Tuch. Die schimmernde Haut ihres Gesichts wird in Licht- und Schattenebenen wiedergegeben. Ein tränenförmiger Perlenohrring, mit wenigen Pinselstrichen angedeutet, sticht aus der Schattenzone heraus und funkelt im Licht. Mit seitwärts gewendetem Blick schaut die junge Frau den Betrachter an, nicht kokettierend, nicht fragend, sondern ernst, überlegen wissend. Es spricht mit dem Betrachter, doch was es spricht, bleibt das Geheimnis des Bildes.
Seine Vorliebe für wohlausgewogene Flächendispositionen, sein Verfahren, komplexe Strukturen auf wenige Elemente zu reduzieren (dabei spielt die Geometrie eine wesentliche kompositorische Rolle), seine Art der Lichtbehandlung, bei der fast schon Pleinair-Wirkungen erreicht werden und die Schatten in farbigem Schimmer erscheinen, überhaupt seine einzigartige Weise des Farbauftrags haben Vermeer zu einer schon in seiner Zeit singulären Erscheinung werden lassen. Das eigentliche Geheimnis aber, das wohl immer ungelöst bleiben wird und doch immer wieder von Neuem bezaubert, ist die Macht von Vermeers unfehlbarem Gespür für kühle Farben, für Harmonie und seine Fähigkeit, lichtdurchflutete Räume zu schaffen. Die Rätselhaftigkeit seiner Bilder – und in der Tat, jedes scheint bei aller Lapidarität ein Geheimnis zu bergen – macht sie unvergänglich.
Johannes Vermeer. Rijksmuseum Amsterdam, Museumstraat 1, tägl. 9 – 17 Uhr, bis 4. Juni. Die Ausstellung ist definitiv ausverkauft. Alle Werke Vermeers können aber online erkundet werden. Katalog (Belser Verlag) 59 Euro.