Sobald man den ersten Schritt auf die waagerechten Förderbänder des labyrinthartig anmutenden Charles-de-Gaulle-Flughafens tut, welche die Passagiere zu den Gates, zum Ausgang oder zu den zahlreichen Geschäften, Kiosks, Cafés und Imbissständen befördern und sich erstaunlicherweise seltsam weich unter den Füßen anfühlen, wie die Fallschutzplatten aus Gummigranulat auf Kinderspielplätzen, fallen künstlerisch gestaltete Werbeplakate mit kurzen, jedoch einprägsamen Texten auf. Man braucht nicht unbedingt ein sehr scharfes Auge zu haben, um diese Plakate zu entdecken, denn ihre Ausmaße, ihre Häufigkeit und die Ausdruckskraft der immer etwas anderes zeigenden Bilder bei gleichbleibendem Untertext reichen aus, um die Aufmerksamkeit eines eilenden Touristen zu erwecken. Das abgedruckte Wort, das sich auf sämtlichen Werbeplakaten wiederholt, ist eigentlich ein Adjektiv: incontournable.
Auch ohne tiefe Französischkenntnisse versteht man das Wortbildungsmuster, wonach dieses Eigenschaftswort gebildet wurde: in- als Negationspräfix, das meistens dem deutschen un-, seltener auch in-, entspricht, wie es die Beispiele zeigen, die einem schnellstens einfallen: franz. indissoluble – dt. unauflöslich; franz. indiscret – dt. indiskret usw. Das Endsuffix -able, das sich aus dem Lateinischen -(a)bilis ableitet, entspricht in deutschen Fremdwörtern dem Suffixabel, bei welchem es allerdings während der Beugung zum e-Ausfall kommen kann, sodass die Endungen in den zwei Sprachen formidentisch werden: franz. comfortable – dt. komfortabel (aber: eine komfortable Unterkunft). In einheimischen Wörtern erscheint zumeist die Endungssilbe –bar mit gleicher Funktion: franz. faisable – dt. machbar. In vielen Fällen weist das Deutsche sogar Dubletten auf: diskutabel – diskutierbar.
Eigentlich wollte ich hier eher auf einige Pariser Sehenswürdigkeiten der besonderen Art eingehen, als mich berufsbedingt auf deutsche und französische Wortbildungsmuster einzulassen, jedoch muss ich aufrichtig sein und zugeben, dass ich mit Sicherheit die folgenden Zeilen nicht zu Papier gebracht hätte, wenn mich dieses vielenorts abgedruckte Wort nicht so intensiv beschäftigt hätte. Was steckt wohl dahinter? Wofür wird damit so obsessiv geworben?
Nicht zu umgehen
Geworben wird nämlich mit diesem merkwürdigen Wort für Sehenswürdigkeiten, die den Durchschnittstouristen, die in den meisten Fällen der Lichterstadt lediglich eine Stippvisite abstatten, bestimmt nicht einfallen würden, sie zu besuchen. Denn die meisten rennen in der kurzen Zeit, die ihnen beim City-Break zur Verfügung steht, wie mit Siebenmeilenstiefeln zur kürzlich renovierten und in neuem Glanz strahlenden Notre-Dame-Kathedrale, zum Louvre, zum Musée d’Orsay und schließlich, fast erschöpft, zum Trocadéro-Platz, von wo aus sie in der Abenddämmerung den erleuchteten Eiffelturm zu bewundern hoffen. Aber es gibt viel mehr als nur das in Paris zu sehen, und eben auf solche Objekte soll mit diesen Plakaten gleich auf dem Flughafen aufmerksam gemacht werden, denn sie stehen alle unter dem Titel: „Incontournables de Paris – Que faire à Paris“. Kein Fragezeichen am Ende. Wohl ein Ratschlag, eine Aufforderung? Man dürfe und sollte all das, wofür geworben wird, ja nicht „unwissend umgehen“, man sollte nicht „im Bogen drum herumgehen“, denn das ist die Bedeutung des zum Substantiv erhobenen französischen Adjektivs. Übrigens scheint mir diese Wortbildung recht schwierig ins Deutsche zu übertragen, denn „Die nicht zu Umgehenden“ oder mit anderer Schreibung „Nicht-zu-Umgehendes“ würde in meinen Ohren ziemlich linkisch klingen.
Nur einiger solcher unbedingt zu besuchenden Objekte, für die mit diesem Ausdruck geworben wird, möchte ich hier Erwähnung tun. Die Reihenfolge in meiner Aufzählung hat mit deren Bedeutung nichts zu tun.
Gehry-Architektur mit Schiffssegel und Magie
Zunächst wäre das von außen zu bestaunende Museumsgebäude der Fondation Louis Vuitton zu nennen, von Frank Gehry, dem weltberühmten amerikanischen Architekten geplant und gebaut, dessen Name auch mit dem Guggenheim-Museum in Bilbao zu verbinden ist. Der Fassade sind zwölf Elemente aus Stahl, Holz und Glas vorgelagert, die Schiffssegeln ähneln.
Mit Gehry ist noch ein „Incontournable“ in Paris zu verbinden: die neue Cinémathèque française, die sich der Erhaltung und Verbreitung von Filmen als Kulturgut widmet und hauptsächlich von staatlichen Subventionen getragen wird. Gezeigt wird dort eine Sonderausstellung zur Collection Georges Méliès unter dem Titel „La magie du cinéma“, für die mit einem ausdrucksvollen Prädikat geworben wird: „Une exposition époustouflante“. Und tatsächlich ist die Ausstellung umwerfend, verblüffend, atemberaubend.
Historischer Schauplatz: Hôtel de la Marine
Einen Besuch wert ist auf jeden Fall das Hôtel de la Marine (auch bekannt als Hôtel du Garde-Meuble), keineswegs ein 5-Sterne-Hotel mit Seeblick oder ein zu Nächtigungszwecken umgebautes Luxusschiff auf der Seine, wie man vielleicht voreilig rückschließen könnte. Die Namensgebung „Hotel“ geht auf eine ältere Bedeutung dieses aus dem Spätlateinischen hospitale „Gast(schlaf)zimmer“ entlehnten Wortes zurück und bezeichnet ein historisches Gebäude, weshalb auch das im Stil der Neorenaissance errichtete Rathaus von Paris den Namen Hôtel de Ville und nicht einfach Mairie trägt.
Das Hôtel de la Marine war ursprünglich ein Büro, das für die Einrichtung aller königlichen Anwesen zuständig war. Im Laufe der Zeit wurde es zum Schauplatz mehrerer historischer Ereignisse, vom Ball zu Ehren der Krönung Napoleons I. im Jahr 1804 über die Feierlichkeiten zur Einweihung des Obelisken auf dem Place de la Concorde durch König Louis-Philippe im Jahr 1836 bis hin zur Ausarbeitung des Dekrets des damaligen französischen Präsidenten zur Abschaffung der Sklaverei im April 1848, das heute in der Originalfassung auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer zu besehen ist. Mittels einer aufwendigen Installation können die Besucher heute im Prunksaal des Palais statt sich selber tanzende Paare in den sich ständig um die eigene Achse drehenden Spiegeln erblicken wie anno dazumal auf dem Krönungsball. Von der großräumigen Loggia im ersten Stock dieses imposanten Gebäudes erblickt man die großflächige Place de la Concorde. Im Kopfhörer des Audioguides hört man das nachgeahmte Gegröle der teils aufrührerischen, teils begeisterten Menschenmenge, während Marie-Antoinette in einem Henkerskarren zur Hinrichtungsstätte gefahren wurde, allerdings von einer Stimme übertönt, die wie beschämt erklärt, dass dieser zweitgrößte Platz Frankreichs, so schön er heute auch aussieht, so grauenvoll und tragisch die Ereignisse sind, die sich dort im Laufe der Zeit zugetragen haben. Der Name des Platzes wurde mehrfach geändert, bevor er den friedfertigen Namen „Concorde“ erhielt.
Zwei einmalige Sonderausstellungen
Unter den Werbeplakaten am Flughafen, die aber auch an Zäunen, Mauern und Litfaßsäulen der Grands Boulevards hängen, stechen zweierlei hervor, auf denen Porträts abgebildet sind: ein Knabenkopf, leicht zur Seite geneigt, mit nach vorne blickenden durchdringenden blauen Augen und rötlich-blondem Kraushaar und ein Profilbild einer Frau mit stark nach hinten gewandtem Kopf, die auf eine brennende Kerze starrt. Damit soll auf zwei einmalige Sonderausstellungen aufmerksam gemacht werden: die eine dem Maler Jean-Baptiste Greuze, die andere Georges de La Tour gewidmet.
Eine reiche Sammlung von Greuzes Porträts, insbesondere Köpfe von Kindern und Halbwüchsigen, ist im prunkvollen Petit Palais in unmittelbarer Nähe der Avenue des Champs-Élysées zu bestaunen. Drollige, herzige Mädchen in aufwendigen wie für Puppen geschneiderten Kleidern, meist naiv-unschuldig, aber auch einige keck blickende Bubenköpfe starren die neugierigen Besucher an. Jedoch tief beeindruckt bleibt man minutenlang vor den Gemälden stehen, in denen Greuze sinnbildhaft halbwüchsige Mädchen gemalt hat, die ihre Unschuld infolge von Misshandlungen verloren haben. Es ist, wie wenn man im Bild deren ganze traurige Geschichte nacherzählt bekommen würde: Ein zerbrochener Krug, den ein Mädchen fest mit beiden Händchen umschlingt, eine geknickte Rose, eine verwelkte Blume, ein Riss in einer vom Efeu bewachsenen Gartenmauer weisen auf die Momente hin, die der Kindheit dieser Mädchen ein jähes, unerwartetes, tragisches Ende gesetzt haben.
Mit Georges de La Tour hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Ende des 16. Jahrhunderts in Lothringen geboren, war er zu Lebzeiten einer der erfolgreichsten Maler Frankreichs. Seine Gemälde kamen auf Bestellung in den Besitz von König Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu. Über de La Tours Jugend und Lehrzeit ist allerdings nichts bekannt, wie er zur Malerei kam, ist auch nicht überliefert. Man weiß auch nicht, wie er ausgesehen haben mag, zumal er unüblicherweise kein einziges Selbstbildnis gemalt haben soll. Kein persönlicher Gegenstand aus seinem Besitz, kein Buch, kein Nachlass sind erhalten geblieben, sogar seine ewige Ruhestätte ist unbekannt. Dass die Erinnerung an ihn sehr schnell, kurz nach seinem Tod, verblassen konnte, lag wohl nicht zuletzt am Schicksal seiner Heimat Lothringen, die im Dreißigjährigen Krieg völlig zerstört wurde. Die Wiederentdeckung de La Tours nach drei Jahrhunderten totaler Vergessenheit ist maßgeblich Hermann Voss zuzuschreiben. Der deutsche Kunsthistoriker hatte nämlich 1934 in der Pariser Orangerie eine Ausstellung mit dreizehn Gemälden von de La Tour organisiert.
„Zwischen Schatten und Licht“ heißt die Sonderausstellung im Musée Jacquemart-André, wo die Gemälde de La Tours untergebracht sind und wofür das Plakat mit dem Seitenporträt der Frau wirbt. Das auf dem Boulevard Haussmann befindliche Museum ist, von außen betrachtet, total unscheinbar wegen seiner dunkelgrauen schmucklosen Fassade. Kaum dass man aber den inneren Garten betritt, zu dem man durch einen langen, dunklen Gang kommt, eröffnet sich den Augen ein prunkvolles Palais.
Was ist nun so besonders an den Gemälden in den verdunkelten Räumlichkeiten, die gerappelt voll von Zuschauern sind, auf dass das Licht der darauf gemalten Kerzen, Öllampen und Fackeln umso heller erscheint? Es sind provokante Bilder, die wie gemalte Geschichten wirken, so wie ein Schriftsteller sie mit der Feder erzählen würde. Zum einen sind es profane Themen: alte Bauern mit Schmutz unter den Fingernägeln, hungernde, mit der Hand Erbsen aus einem Napf essende Arme, Bettler, blinde Musikanten, eine Frau mit offenem Hemd, die in der Schummerigkeit ihrer Stube Flöhe zerdrückt. Ein anderer Themenkreis widmet sich Gaunereien wie zum Beispiel das Bild eines Falschspielers mit dem Karo-Ass oder jenes mit der betrügerischen Wahrsagerin und dem Taschendieb. Zum anderen sind es biblische Motive, die jedoch befremdend wirken, zumal die Heiligen und die Apostel als einfältige Bauern, als gebrechliche Alte und einfache Menschen dargestellt sind (der von seiner Frau verspottete Hiob, Joseph als Zimmermann, die Anbetung der Hirten). Das auf dem Werbeplakat abgebildete Seitenporträt der Frau zeigt die reuige Maria Magdalena. Wie eine „Doppelreue“ wirkt das doppelte Kerzenlicht, das durch die Spiegelung des Kerzenständers entsteht.
Und bei nochmaligem näherem Besehen der fast überall hängenden Werbeplakate verstand ich schließlich, dass diejenigen, die sich all dies haben einfallen lassen, vollkommen recht hatten, dafür eine markante Wendung zu verwenden: „Incontournables de Paris“. Und die langen Menschenschlangen vor den Eingängen lohnen sich zweifelsohne.









