Die kulturelle Longue Durée der Siebenbürger-Sachsen

Joachim Wittstocks Roman „Das erfuhr ich unter Menschen“ – gelesen als Sequenzierung des historisch-kulturellen Kontinuums einer Traditionsgemeinschaft

„Das erfuhr ich unter Menschen. Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale“, Schiller Verlag, Hermannstadt/Bonn

„Literarischer Gutachter“ eines kulturellen Lanzeitraums: Joachim Wittstock in seinem Arbeitszimmer, 2009 Foto: K. Klein

Kronstadt mit Schwarzer Kirche, im Vordergrund Wehrturm der inneren nördlichen Stadtmauer. Bild von Karl Hübner, 1942. Öl auf Sperrplatte Foto: K. Klein

Brukenthal-Palais in Hermannstadt – steinerner Speicher der siebenbürgischen Longue Durée Foto: J. Wittstock

Joachim Wittstocks Roman „Das erfuhr ich unter Menschen“ ist ein Spätwerk von erstaunlicher erzählerischer Spannweite. Der „Heimweltautor“, wie er sich mit einem Anflug von Ironie, aber treffend selbst bezeichnet, entwirft darin nicht nur eine Fülle von Figuren, Orten und Episoden, sondern eine ganze kulturelle Zeittopografie. Sein Erzählen gilt den Siebenbürger Sachsen als einem historischen Kontinuum. Er ist bestrebt, ihre kulturelle Longue Durée zu entschlüsseln, die sich über Jahrhunderte spannt und in genealogischen Linien, in städtischer Topografie, in Berufen und Ritualen, in Erinnerungsräumen und nicht zuletzt in der Sprache fortschreibt. Wittstock erweist sich dabei als eine Art enzyklopädischer Chronist einer Region, deren Lebensformen er mit stupender Kennerschaft registriert.

Zentral ist sein Verständnis von Zeit. Der Roman organisiert sich in einer geschichteten Chronikzeit: Auf der Makroebene stehen Dauer, Perennität und historische Beständigkeit – Familien, Orte, Institutionen, kirchliche und bürgerliche Rituale. Auf dieser Bühne laufen die Mikrozeiten der Einzelfälle ab. Sie werden von den handlungsbestimmenden Achsenfiguren – Samuel und Dorothea Tartler, Konrad Bogner und Bernhard-Kuno Schürge, Volkmar Decani und Michael Forkesch getragen. Aber auch zahlreiche Nebenfiguren, deren Lebensbahnen durch Krieg, Deportation, Enteignung und politische Umbrüche umgelenkt werden, bevölkern Wittstocks weit ausgreifendes siebenbürgisches Erzählpanorama. Diese Einzelgeschichten sind Kerben in einem viel größeren Rahmen, sie werden nicht als spektakuläre Ausnahmen erzählt, sondern als Einträge in ein fortschreibbares Register der Dauer. Das Leitmotiv, das diesen Roman durchzieht, ist Heimat – nicht als statischer Besitz, sondern als variable Größe unter geschichtlichem Druck. Heimat ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der Mikrotextur des Alltags (Biografien, städtische Lebensräume, Routinen, Rituale) und der Tektonik der Geschichte (Krieg, Regimewechsel, Lager, Umsiedlung, Verfolgung, Enteignung). Je stärker die äußeren Kräfte wirken, desto mehr verschiebt sich Heimat in Erinnerungs- und Sehnsuchtsräume. Am Ende bleibt – in der Logik des Romans – vor allem eines: das Epos der Heimat in der Sprache, die sie bewahrt.

Konsequent entscheidet sich Wittstock im Spannungsfeld von Fiktion und Faktentreue für einen „chronikalischen Realismus“ der belegten Faktizität und Überlieferung. Er misstraut dem mitunter freibeuterischen Charakter der Fiktionalität und stützt sich lieber auf Dokumente, Bildmaterial, Erinnerungen, Begehungen der städtischen Örtlichkeiten und auf mündliche Überlieferung, aus denen er seine „romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale“, so der Untertitel des Romans, montiert. Die Erzählinstanz wirkt wie eine Mischung aus Archivar, Chronist und Forschungsreisender in eigener Kultur: Sie sammelt, ordnet, vergleicht, ohne laut zu werten. 

Je größer die Stofffülle und die Mikrozeittaktung ausfallen, desto klarer tritt die Dauer hervor. Die vielen Ereignisse sind letztlich nur Variationen über sehr wenige, hartnäckige Grundstrukturen. Die Mikroereignisse werden in eine Makro-Dauer eingeklinkt: Die weit ausgreifende Stoffanlage steckt überwiegend in der Mikrozeit. Aber jedes Ereignis wird in dasselbe Makro-Gerüst eingehängt – genealogisch („Enkel von …“), institutionell („im Rahmen der Klinik/der Gemeinde/des Staatsapparats“), topografisch (dieselben Orte). So erscheinen die Ereignisse nicht als chaotische Kette, sondern als Kerben in einem vorgegebenen Langzeit-Balken. Die gefühlte Zeitlosigkeit kommt daher, dass die Makroebene immer recht ruhig bleibt und sich nicht verändert – egal, welche Mikroschocks durchlaufen werden. 

Wenn wir im Folgenden Wittstocks Lexik und Syntax, den Erzählstil und die Rollenrede seiner Figuren genauer betrachten, geht es darum, zu zeigen, wie sich der Anspruch auf eine redlich notierte Empirie des „chronikalischen Romans“ ganz konkret in sprachlichen Entscheidungen niederschlägt: in Wortwahl und Satzbau, in Erzählduktus und Perspektivführung, in der Abstufung zwischen Chronikton und Figurenstimme. Die anschließende Sprach- und Stilanalyse versucht, diese spezifische Sprache der Dauer freizulegen – als Schlüssel zum Verständnis von Joachim Wittstocks Roman und seiner singulären Stellung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Die reiche Lexik der Longue Durée

Die Güte eines literarischen Textes kann unter anderem einigermaßen zuverlässig aus seinem reichhaltigen Wortschatz abgeleitet werden: Er ist ein guter Indikator für Mittelmaß oder Exzellenz. Eine diesbezügliche Auswertung ergibt für den Roman „Das erfuhr ich unter Menschen“ insge-samt 185.900 laufende Wörter (Tokens). Verschiedene Wortformen, die nur einmal pro Wortform gezählt werden, schlagen mit 28.180 sogenannten Types zu Buche. Soweit so gut. Nun wird es spannend: Rund 17.270 Wortformen der über 28.000 Types treten nur ein einziges Mal auf. Es sind sogenannte Hapax legomena (aus dem Griechischen: hapax = einmal; legomenon = das Gesagte). Der sprachwissenschaftliche Begriff bezeichnet eine Wortform, die in einem gegebenen Textkorpus, in unserem Fall ist es der gesamte Roman, nur einmal vorkommt. Der Anteil von über 61 Prozent von Hapax legomena an allen Grundwörtern des Textes (den Types) ist der untrügliche Nachweis für einen ungewöhnlich vielfältigen und originellen Wortschatz.

Wittstocks Prosa arbeitet nicht mit einem begrenzten Vorrat an immer wiederkehrenden Formen, sondern ruft für Situationen, Figuren, Orte und historische Konstellationen sehr häufig singuläre Lexeme auf, die genau an einer Stelle und in einem ganz bestimmten Kontext eingesetzt werden. Damit korrespondiert der panoramisch-chronikalische Erzählgestus des Romans mit einer hohen lexikalischen Präzision. Der geschichtliche Längsschnitt wird nicht abstrakt, sondern in der Konkretion von Ortsnamen, Funktionsbezeichnungen, technischen Termini, Spitznamen und regionalen Ausdrücken erzählt. Konkrete geschichtliche Wirklichkeit wird in ihrer lokalen und situativen Besonderheit ernst genommen. In Wittstocks ethischem Verantwortungsrealismus bedeutet dies: Die Überkomplexität der Geschichte wird nicht begrifflich behauptend geglättet, sondern durch eine detaillierte, oft singuläre Lexik verantwortet. Der Erzähler verzichtet darauf, historische Gewaltprozesse oder soziale Räume in stereotype Sprachformeln zu pressen. 

Einige wenige verdeutlichende Beispiele sollen hier exemplarisch für bestimmte Typen von Hapax-Lexik stehen, die die Weltsicht Wittstocks transportieren: Orts- und Institutionsbezeichnungen (Beispiele: Biengärten, Erlenpark, Augenspital, Flechtenmacher-Sanatorium; Goldschmiedgasse, Domplatz); Berufs- und Funktionsbezeichnungen (Kriegsaushilfsärztin, Kaffeehausbesitzer Kindermann, Landsturm-Regimentsarzt, Amateurhistoriker); fachsprachliche, technische und historisch belastete Ausdrücke (Krebsspital, Geschwulstklinik, Radiumvorrat, Röntgenapparat, Arisierungen, Rubelscheine); komplexe Komposita und Formulierungsunikate (Franz-Joseph-Orden, Burgpromenaden-Gespräch, Armee-Sanitätsdienst); Eigennamen, Spitznamen und rumänische Ausdrücke (Getzi, Volkmann-Leander, carte poștală militară gratuită, Kauftrunk, aldămaș). 

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für einmalig verwendete Wörter entstammt der Kategorie „archaisierende Übersetzungskreation/kulturell-ideologische Verdichtung“: „urväterliche Herdstelle“, rumänisch „vatră strămoșească“. Seine stilistische Wirkung beruht auf zwei Komponenten:

a) archaisierende Komposition (Morphologie): Das Wort ist ein Kompositum, dessen Vorderglied („urväterlich“) archaisch und feierlich klingt. Es übersteigert das einfache Adjektiv „väterlich“ und verweist auf eine tiefe, mythische Vergangenheit, die bis zu den „Urvätern“ zurückreicht. Es verleiht dem Substantiv eine zeitlose, fast heilige Aura; 

b) kulturelle Übersetzung und Verdichtung (Semantik): Die Hinzufügung des rumänischen Originals „vatră strămoșească“ ist entscheidend. Vatră (Herd, Feuerstelle) steht im Rumänischen metaphorisch für Heimat. Str²mo{easc² (urväterlich, von den Ahnen) verstärkt die historische und emotionale Tiefe. Wittstock übernimmt dieses kulturell hoch aufgeladene Konzept und übersetzt es nicht einfach, sondern kreiert einen deutschen Ausdruck, der die gleiche pathetische und zeitlose Schwere des Originals trägt. Die deutsche Wortschöpfung ist somit ein lexikalisches Äquivalent für einen tief verwurzelten kulturellen Begriff im rumänischen Kulturraum. Rumänische Longue Durée mutiert – die Bedeutung potenzierend –  zu einer Konstante im siebenbürgisch-sächsischen Langzeitraum. 

In „Das erfuhr ich unter Menschen“ arbeitet Wittstock konsequent mit einer vielschichtigen, multikulturellen Lexik, in der hochdeutsche Prosa, siebenbürgisch-sächsischer Dialekt, rumänische und ungarische Ausdrücke ineinandergreifen. Den dialektalen Einsprengseln stehen rumänische und ungarische Lexeme gegenüber, die Wittstock fast immer im Original belässt und nur knapp glossierend einbettet. Charakteristisch ist, dass Wittstock diese Sprachinseln nicht als pittoreskes Kolorit einsetzt, sondern als präzise Marker von Zugehörigkeit, Macht und Dauer. 

Lexik der Verwal-tung – Dauer als „verfahrensförmige“ Welt

Wittstocks Wortwahl übersetzt singuläre Ereignisse in seriell verwaltete Vorgänge. In der Securitate-Sequenz liest Decani ein Protokoll, das „grosso modo das Gesagte“ enthält; die Niederschrift ist „eher der Gleichfluss routinierter Formulierungen“, es ist ein Papier, „das ins Archiv wandert(e) … oder Handfessel“ bleibt; anschließend hat er „erklärt und eigenhändig unterzeichnet“ zu schreiben.

Auch Kriegs- und Nachkriegsbahnen erscheinen als Ablaufketten: „… ins Lager Târgu Jiu verbracht … zum Arbeitsdienst in die Sowjet-Ukraine deportiert … im Donbas traf man einander wieder“ – Formulierungen, die den Gewaltvollzug in Verfahrenssprache rücken. Die Endstation wird wiederum amtlich mitgeteilt: Der „administrativ verurteilte B. K. Schurge“ sei in N²vodari verstorben – inklusive Schreibfehler im Namen.

Im Mordfall Ella Friedwagner hält der Text bewusst am formelhaften Ton fest: Der Fundort wird registriert, die Spurenlage nüchtern sortiert und am Ende heißt es: „Man muss zugeben: Über die entscheidenden … Beweise verfügt man nicht.“ Diese Registratur- und Protokolllexik erzeugt Zeit als Verfahren: Die Welt läuft als Kette benennbarer, wiederholbarer Vorgänge. Das ist erzählte Dauer.

Syntax der Dauer – wie der Satz Zeit „hält“

Zwei Beispiele mögen einen Problemaufriss anbieten: „In den fünfziger und sechziger Jahren war er für Stadt und Landkreis die bedeutendste Heilanstalt, benannt nach Ilie Pintilie, einem Eisenbahner, der als führendes Mitglied der um 1930 verbotenen Kommunistischen Partei inhaftiert worden war und beim Erdbeben 1940 unter den Trümmern des einstürzenden Gefängnisses den Tod fand.“ – Der Satz schiebt „In den fünfziger und sechziger Jahren“ nach vorne und hängt daran eine ganze Kette von Bestimmungen: Funktion des Spitals, Namenspatron, kurze Biografie, Todesumstände. Die syntaktische Verschachtelung modelliert gleich mit, wie institutionelle Dauer und biografische Einschnitte ineinander greifen.„In einem grenznahen kleinen Ort, unweit von der im Rumänischen gegenüber liegenden Stadt Arad, in Mezöhegyes, kam er mit ungarischen Grenzern ins Gespräch.“ – Der Satz baut eine miniaturhafte Landkarte im Vorfeld: „grenznaher kleiner Ort“ ? „unweit … Stadt Arad“ ? „in Mezöhegyes“ – erst danach kommt der eigentliche Vorgang („kam er mit ungarischen Grenzern ins Gespräch“). Die syntaktische Staffelung entspricht der topografischen Annäherung. Die Syntax erzeugt einen narrativen Kartenausschnitt, der Wittstocks Leitidee stützt: Geschichte vollzieht sich immer in konkreten Zeit- und Raumkoordinaten – nie im luftleeren Fiktionalraum.

Was bewirken diese Sätze syntaktisch-poetologisch? Indem durch das Verfahren der Topikalisierung Zeit- und Ortsangaben systematisch im Vorfeld stehen, erhält fast jeder erzählte Vorgang die Form eines Chronikeintrags: Wann? – Wo? – erst dann: Was geschieht? Das wirkt weniger wie spontanes Erzählen und mehr wie registrierendes Festhalten. Die eigentliche Handlung hängt an einem bereits sorgfältig ausgeleuchteten Rahmen. So „hält“ der Satz die Zeit, bevor er die Aktion freigibt.

Agentenlöschung im Passiv

Neben Nominalstil und Funktionsverbgefüge (Verfahren statt Tat) – „ins Lager verbracht“, „zum Arbeitsdienst deportiert“, „Umstrukturierung“, „Zuweisung“, „wurde vermerkt“ – und Resümee-/Protokollformeln als Klammer – „Erklärt und eigenhändig unterzeichnet“ – festigt insbesondere das stilistische Verfahren der Agentenlöschung im Passiv („es wurde verhaftet“, „es wurde verlegt“, „es wurde veranlasst“) die Zeitlosigkeit der Chronistenaufzeichnung. Die Agentenlöschung lässt sich auf drei Ebenen lesen. Erstes Beispiel: „Er wurde ins Lager verbracht“ – Wenn nicht gesagt wird, wer handelt, rückt der Text den Vorgang in den Vordergrund, nicht die Tat einer bestimmten Person. In der Poetik der Dauer „hält“ der Satz Zeit: Lebensläufe und damit Geschichte erscheinen als Kette von Vorgängen, nicht als grell beleuchtete Einzel-aktionen.Zweites Beispiel: Nicht „X verhaftete, verschleppte, deportierte Y“, sondern „Y wurde verhaftet, verschleppt, deportiert“. Konkret: „Im November des Jahres 1952 wurde Bernhard-Kuno Schürge ‘an den Kanal’ verschleppt.“ – Hier waltet Systemzeit und Institutionenzeit statt Täterzeit. Das schiebt den Fokus weg von der Einzelperson hin zur Institution (Geheimpolizei, Staatsterror, Verwaltung), die im Hintergrund wirkt. Drittes Beispiel: Schürge „… wurde im Spätherbst 1944 ins Lager Târgu Jiu verbracht, mitsamt anderen Personen, die zu den Amtswaltern gehört hatten.“ Liane: „Von hier wurde sie (…) abgeholt, um in ein Lager eingeliefert zu werden.“ – Wittstock vermeidet große moralische Ausrufezeichen. Kein Pathos, kein Skandal: der Ablauf von Geschichte ist „unterkühlt-dramatisch“. Der Passivstil mit Agentenlöschung hält über weite Strecken den Chronikton und vermeidet so sachlich den Anklagegestus. Die moralische Bewertung des Geschehens wird dem Leser überlassen und zeigt gleichzeitig, wie Sprache selbst zur Mitläuferin werden kann, indem sie Verantwortliche aus dem Satz kippt. Agentenlöschung ist bei Wittstock kein bloßer Grammatik-Trick, sondern eine Form, in der sich seine Sicht auf Geschichte spiegelt: Menschen geraten in Ketten von Vorgängen, die von anonymen Institutionen gesteuert werden. Die Chronik registriert das in einer Sprache, die die Dauer des Systems, nicht den Auftritt einzelner Täter in den Mittelpunkt stellt. Daher rührt der feine Kafka-Nachklang seiner Chronik.

Urbaner Raum als Gedächtnisdepot: Topografie der Longue Durée

Wittstock schreibt seine Figuren in eine kartierte Welt ein: Wege, Plätze, Trassen, Mauern, Türme, Kliniken, Kirchen, Gelände- und Stadtschluchten wirken wie eine zweite Erzählinstanz. In Kronstadt (Corona) ordnen Fixpunkte die Wahrnehmung – und überstehen damit Politikwechsel und Nutzungsumwidmungen. So beginnt der große Sanatoriums-Erzählstrang mit einem Ortstermin: der Blick auf das ehemalige Sanatorium Dr. Tartler, seine Fassadenhistorie und der geplante Einbau eines Parkhauses in das Altgemäuer. Der Erzähler vergleicht alte und neue Dachformen, registriert die „klassizistische Linie“ der Gegenwart und kommentiert die städtebauliche Passfähigkeit des Projekts. Vom Schwarzgässchen über den Gemüsemarkt schwenkt der Erzähler zum Schneckenberg und hinauf zum Militärspital – die Route ist kein Zufall, sondern eine Art Gedächtnisparcours. Topografie erscheint hier als Langzeitprüfung: Was hält im Gefüge? Die Wegeführung macht Dauer als Begehbarkeit sichtbar.

Besonders deutlich wird die Stadt als Erinnerungsspeicher im medizinischen Ensemble: Die „Maternitate“ liegt „abgesteckt“ zwischen der Schmiedbastei (heute Archiv), dem Felsabfall des Schwarzen Turms und der Rahmengasse, daneben „…ein linkerhand errichtetes Hochhaus, eine Errungenschaft der 1980er Jahre, (…) dessen kubisch-klobiges Erscheinungsbild…“ sich der Erzähler einprägt, und, „eingefügt“ ins Areal, die Strahlenabteilung, wo Dr. Petrus Benvenuto Bogner arbeitet. Der Satz kartiert, bevor er wertet: ein geologisches und institutionelles Gefüge, das die Berufsrollen buchstäblich verortet.

Die Topografie ist bei Wittstock kein Dekor, sondern Gedächtnisapparat. Indem Orte benannt, verknüpft und in wiederkehrenden Geh- und Blickbahnen durchmessen werden, entsteht ein Stadtarchiv in Bewegung. So wird kulturelle Longue Durée anschaulich: Die Stadt bleibt adressierbar, auch wenn Funktionen wechseln; die Namen und Lagen tragen die Geschichten über die Zeiten hinweg.

Rollenrede und Dialoge: Die Romanfiguren sprechen im Register der Dauer

Wittstock zeichnet seine Figuren nicht primär über psychologische Innenschau, sondern über Lebensbahnen, Räume, Funktionen, Rituale, Dinge – und vor allem über ihre Rollenrede. Wie jemand als Pfarrer, Arzt, Offizier, Nachbarin, Heimkehrer oder Securitate-Mann spricht, bündelt Institution, Milieu und persönliches Ethos. Die Rollenrede ersetzt den psychologischen Tiefenblick – sie zeigt, wie ernst eine Figur ihre Verantwortung nimmt, wie sie sich schützt, anpasst oder sperrt, und macht zugleich hörbar, wie Redeweisen, Höflichkeitsformen und Dialektsplitter über Jahrzehnte hinweg stabil bleiben. So werden die Figuren bei Wittstock zu Trägern eines kulturellen und historischen Langzeitkontinuums – und dieses Kontinuum ist im Sprechen der Rollen am deutlichsten zu fassen. Seine Figuren sind rollenfixiert gedacht.

Wittstock erzählt keinen modernen Ich-Roman, in dem Individualität gegen alle Strukturen ankämpft. Er zeigt keine Helden, sondern Menschen. Ihre Individualität ist sehr wohl ausgeprägt, aber nicht radikal entgrenzt: Sie vollzieht sich innerhalb von Rollen – Arzt, Pfarrerin, Archivar, Nachbarin –, die sie nicht sprengen, sondern ernst nehmen. Ihr Sprechen ist von Anfang an sozial formatiert und erscheint als Rollenrede. Im Gegensatz zur extremen Individualität moderner Selbstentwürfe ist Wittstocks Figurenindividualität stets an Tradition, Pflichtbewusstsein und dichte soziale Einbettung gebunden – ein Gefüge, das den Charakter stützt, begrenzt und kontrolliert und ihn dadurch erkennbar macht. Im Spannungsfeld zwischen innerer Freiheit und äußerem Rollenrahmen wird bei Wittstock Charakter sichtbar. Seine Figuren behaupten sich nicht als spektakuläre Ausnahmewesen, sondern als verantwortliche Einzelne in einem dichten Geflecht aus Sprache, Ritual und institutioneller Dauer. Rollenrede ist deshalb der Punkt, an dem sich Institutionen, Biografie, Topografie und Ethos in Sprache bündeln. Rollenrede ist die akustische Form der Dauer.

Die Heltauer Episoden zeigen in nuce, wie viel Lokalkolorit Wittstock mit minimalen Mitteln freisetzt. Wenn Tante Betty von ihrer Familie erzählt, reichen wenige Sätze, um eine Gemeindewelt aufzurufen: „Mein Großvater, der Heltauer Pfarrer“ wird als regional bekannte Autorität skizziert, die Pfarrfrau hilft still und wird eben deshalb respektiert. Schon diese knappe Figurenrede – plus der beiläufige Hinweis auf behördlich erzwungene Einquartierungen, Möbel, Krüge und Zierteller in den überfüllten Zimmern – macht das Heltauer Pfarrhaus als sozialen Mikrokosmos sichtbar: Nachbarschaftshilfe, Bescheidenheit, bürgerliches Restambiente. In anderen Szenen genügt eine dialektale Begrüßung wie „Gaden Morjen, Herr Vouter“ für den Pfarrer in Reen, um lokale Sprechlage, Rangordnung und vertraute Distanz zugleich zu markieren. Und wenn Heimkehrer aus der Lagerhaft in der Heltnerschen Wohnung nahezu wortlos bleiben und „gedrosseltes Ausdrucksvermögen“ nur noch in „kärglichen Sprachlaut“ übergeht, wird eine traumatisierte Sozialwelt mit wenigen Strichen angedeutet.
Wittstocks Sprache ist Archivdepot, nicht WhatsApp-Dürftigkeit

Joachim Wittstock entschlüsselt ein kulturelles Genom: Er steckt die ethische Sphäre ab (Treue, Wahrhaftigkeit, Geduld), er präsentiert den Institutionenüberbau (Kirche, Schule, Sanatorium, Rat/Verein), er bringt dem Leser Berufe nahe (Arzt, Pfarrer, Kaufmann, Archivar), er kartiert den Raum mit Toponymen (Weißer Turm, Honterus-Raum, Stalinplatz/„große Apotheke“) und er tastet den Echoraum der Rituale ab (Visite, Befragung, Besprechung). Diese Konstanten werden im Text selbst sprachlich sichtbar (Verfahrenslexik, Protokollformeln, Rollenrede usw.) und haltbar. 

Joachim Wittstocks Sprache ist in der deutschen Gegenwartsliteratur singulär – sie ist faktisch unnachahmbar. Nicht, weil sie künstlich auf „alt“ getrimmt wäre, sondern weil Form und Ethos deckungsgleich sind: Die Sprache ist die Botschaft. Wie nur in vollendeten Werken fällt hier die Sache mit der Art des Sagens zusammen: Die chronikalisch-amtliche, archivierende Diktion ist die Longue-Durée-Form, die die kulturelle Persistenz trägt, die sie behauptet. Krieg, Deportation, ein Verhör, ein Unfall, ein Mord, die Enteignung könnten pathetisch-konfliktreich erzählt werden – Wittstock steckt sie sachlich-unpathetisch in Protokoll- und Registerformeln. Der Leser merkt zweifellos, dass ihm eine kühle, manchmal beinahe eisige Geschichtsnüchternheit entgegenschlägt. Gleichzeitig entsteht narrative Wärme, wenn die  Figuren stoisch-beharrend ziemlich alles ertragen, nichts an ihren Wesenskern herankommen lassen, alles verantwortlich überdauern, beinahe instinktethisch nach Formeln der Longue Duréee handeln.

Die moralische Reaktion auf diese Dualität  zwischen geschichtlicher Exponiertheit und den Reaktionen darauf, die flexibel in den Formen, aber fest in der Bewusstseinshaltung sind, muss sich im Kopf des Lesers herausbilden, sie ist nicht Aufgabe der Erzählstimme. Sprache ist für Wittstock existenziell-künstlerischer Ernst, nicht Spiel und Deko. Diese Sprache „macht“ den chronikalischen Stil aus: Die Welt erscheint als etwas, das fortlaufend protokolliert, vermerkt, katalogisiert, glaubwürdig belegt, aktenkundig und dadurch erträglich gemacht und „entschärft“ wird – und so wird aus der Chronik das „literarische Gutachten“ einer sprachlich-kulturellen Traditionsgemeinschaft.
Ein weiterer Essay von Walter Fromm zu Wittstocks Roman ist  in der „Siebenbürgischen Zeitung“ vom 16. Dezember 2025 erschienen: „Redliche Empirie der Dauer: Joachim Wittstocks Griff nach der Zeitlosigkeit“.