Robert Scheer befragte seine Großmutter Pici als Neunzigjährige kurz vor ihrem Tod über die schlimmen Erfahrungen, die sie als Jüdin aus Nordsiebenbürgen in den Jahren 1944 und 1945 machen musste. Die 1924 geborene Elisabeth Scheer, geborene Meisels, erlebte die Deportation als bis dahin wohlbehütete Zwanzigjährige. Da sie nur 150 Zentimeter groß war, wurde sie Pici – die Kleine - genannt. In Groß-Karol/Carei/Nagykároly waren zehn Prozent der etwa zwanzigtausend Einwohner Juden. Picis Vater war ein geachteter Holzhändler, der bis 1940 keine Konflikte mit Käufern und Nachbarn hatte.
Die Eltern sprachen mit ihren fünf Kindern Ungarisch und pflegten jüdisches Brauchtum. Die Feiertage wurden in der Großfamilie verbracht, zu der außer den Großeltern auch eine verheiratete Tochter samt Ehemann und Kind gehörte. Pici kam 1931 in die deutsche Grundschule, in der jüdische Schüler die Mehrheit stellten. Ihre zwei älteren Schwestern gingen auf das rumänische Gymnasium. Ab 1935 mussten alle jüdischen Schüler rumänische Schulen besuchen. 1938 bekam Pici mit, dass in der Umgebung Juden von Anhängern der Eisernen Garde aus Zügen geworfen wurden.
Am 5. September 1940 wurde Nordsiebenbürgen infolge des Zweiten Schiedsspruchs Teil Ungarns und danach verschlechterten antisemitische Gesetze sofort die Lage der Familie Meisels: Der Vater durfte nicht mehr mit Holz handeln und die Schwestern verloren ihre Arbeitsstellen. Pici konnte mit 16 Jahren keine Schule mehr besuchen und wurde bei einer Schneiderin in die Lehre geschickt. Am 19. März 1944 besetzte die Wehrmacht Ungarn und schon am 2. Mai mussten die Juden von Groß-Karol in ein Ghetto ziehen. Bald wurde die Familie in das größere Ghetto der Kreisstadt Sathmar/Satu Mare getrieben. Dort wurden etwa 18.000 Juden bis zu ihrem Abtransport nach Auschwitz festgehalten. Anfang Juni wurde die Familie in einen Lastzug verladen. Nach der Ankunft wurden die Eltern von Pici sofort durch Gas getötet, ebenso die älteste Schwester mit dem Kleinkind. Die SS stufte Pici und ihre beiden älteren Schwestern als arbeitsfähig ein.
Da sie zusammenblieben, halfen sie sich gegenseitig die brutalen Bedingungen zu ertragen. Mitte August wurden die drei Schwestern zur Zwangsarbeit ins KZ Natzweiler bei Walldorf transportiert. Sie mussten in der Nähe des Flughafens von Frankfurt tiefe Gräben ausheben und Waldstücke roden. Trotz der sehr schweren Arbeit bekamen sie kaum etwas zu essen. Nach einigen Wochen wurden sie ins KZ Ravensbrück gebracht, wo Picis beide Schwestern Ilona und Ana mit 27 und 29 Jahren an Typhus starben. Pici überlebte dieses völlig überfüllte KZ, dann dessen Zweigstelle Rechlin. Ende April trieb die SS die Zwangsarbeiterinnen bis Malchow, viele starben bei dem Todesmarsch. Pici konnte sich absetzen und wurde am 2. Mai von Soldaten der Roten Armee befreit. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand verbessert hatte, kehrte sie im August 1945 nach Groß-Karol zurück. Auf dem Heimweg lernte Pici Izidor Scheer kennen und heiratete diesen ehemaligen Deportierten. Im Dezember 1946 wurde ihr Sohn Iván geboren. Pici bekam eine Wirbelsäulentuberkulose und musste vier Jahre ein Korsett tragen. Über die Zeit, als ihr Mann die Parteischule in Groß-Karol leitete, sprach sie kaum. Pici kümmerte sich intensiv um die beiden Enkel, bis ihr Sohn 1985 nach Israel auswanderte. Ein Jahr später folgten ihnen Pici und ihr Mann. Dem Sohn erzählte Pici wenig über die Ermordung ihrer Eltern und Geschwister, jedoch den beiden Enkeln. Robert Scheer befragte sie intensiv und so entstand dieses Buch.
Durch die bewegende Geschichte bekommt das Leiden dieser Familie ein Gesicht. Sie steht für die rund 425.000 Juden aus Ungarn, die 1944 nach Auschwitz deportiert wurden und von denen nur sehr wenige die Befreiung erlebten. Dank des Nachworts der Verlegerin Jana Reich lässt sich die bedrückende Darstellung in den historischen Kontext einordnen. Sie verweist darauf, dass die Geschichte des Außenlagers Walldorf erst seit den 1990er Jahren aufgearbeitet wird. Als Pici 1970 von der Baufirma Jean Bratengeier in Frankfurt, bei der sie mehrere Monate Zwangsarbeit leistete, eine Bestätigung anforderte, kam keine Antwort. Diese beschäftigte 1944 1500 Frauen, es starben etwa 40 bis 50. Im Januar/Februar 1945 kamen durch die Typhusepidemie im KZ Ravensbrück etwa 6000 Menschen um, darunter 1260 Jüdinnen.